Seite - 112 - in Die Liebe der Erika Ewald
Bild der Seite - 112 -
Text der Seite - 112 -
Gestalt. Die Tore waren zerbrochen, Fetzen und Splitter, wie blutige Spuren
deuteten den mitleidslosen Weg der Bilderstürmer. Mühsam tappte er durch
das Dunkel zu seinem Bilde. Seine Hände griffen nach dem Schrein. Aber sie
irrten, irrten ins Leere. Und sanken müde herab. Das Vertrauen in seiner
Brust, das viele Jahre sein frommes Lied zu Gottes Dank und Gnade
gesungen, verflog jäh, wie eine gescheuchte Schwalbe.
Endlich faßte er sich und schlug ein Licht an. Ein flüchtiger Schein zuckte
vom Zündsteine auf und hellte ihm einen Anblick, der ihn taumelnd
zurückfahren ließ. Auf dem Boden zwischen Trümmern lag des italienischen
Meisters traurig-süßes Madonnenbild, die Madonna mit dem blutenden
Herzen, vom Schwertstoß durchdrungen. Aber nicht das Bild, sondern die
Gestalt, die Madonna selbst… . Kalter Schweiß stand auf seiner Stirne, als
das schnelle Aufleuchten wieder erlosch. Er glaubte einen bösen Traum zu
leben. Aber als er wiederum das Licht entflammte, erkannte er Esther, die mit
tödlicher Wunde hingestreckt war. Und durch ein seltsames Mirakel
offenbarte sie, die sein Madonnenbild im Leben verkörpert, des fremden
Meisters Madonnenzüge und ihr blutendes Schicksal im Tode… ..
Es war dies ein Wunder, ein offenbares Wunder. Aber der alte Mann wollte
an keine Wunder mehr glauben. In dieser Stunde, da er sie, seiner letzten
Lebenstage mildleuchtende Blüte tot sah, neben seinem zerschmetterten Bilde
war die gläubig klingende Saite seiner Seele zerbrochen. Er verleugnete den
Gott seiner siebzig Jahre in einer Minute. Konnte dies denn des weisen und
milden Gottes Hand sein, die so viel Schöpferseligkeit und werdende Pracht
nur schenkte, um sie wieder zwecklos ins Dunkel zu reißen. Dies konnte kein
Wille sein, nur das Spiel eines tändelnden Willens! Nur ein Wunder des
Lebens und nicht Gottes, ein Zufall, wie Tausende durch den Tag rauschen,
sich verschlingend und sich wieder lösend. Nicht mehr! Könnten denn Gott
die guten und lauteren Seelen so wenig sein, daß er sie hinwarf im lässigen
Spiel? Zum ersten Male stand er in einer Kirche und verzweifelte an Gott,
weil er ihn groß und gütig geglaubt hatte und nun seine Wege nicht mehr
verstand.
Lange sah er nieder zu der jungen Toten, die so viel frommes Abendlicht
über seine letzten Jahre gegossen. Und er ward milder und gerechter, als er
die verhaltene Seligkeit um ihre gebrochenen Lippen sah. Demut kam wieder
über sein gütiges Herz. Durfte er denn wirklich fragen, wer dies seltsame
Wunder vollbracht, daß dieses einsame Judenmädchen für der Madonna Ehre
in den Tod gegangen war? Durfte er rechten, ob Gott, ob das Leben dies
gefügt? Durfte er die Liebe mit Worten umkleiden, die er nicht wußte, durfte
er sich gegen Gott auflehnen, weil er sein Wesen nicht verstand?
Der alte Mann erschauerte. Er fühlte sich sehr arm in dieser einsamen
112
zurück zum
Buch Die Liebe der Erika Ewald"
Die Liebe der Erika Ewald
- Titel
- Die Liebe der Erika Ewald
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1904
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 114
- Schlagwörter
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik