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Tagebuch 1937/1
die dringlichsten Briefe zu schreiben. Dann im Jardin des Plants (gleich bei uns) spa-
zieren gegangen u. oben auf d. Stufen eines Ausstell[ungs]gebäudes in d. Sonne ge-
sessen u. eingenickt. Für Minuten vergessen können ! Im Garten oben beim Schloss
wieder spazieren u. langsam herunter, über d. Grande Place, die noch immer ganz
intakt ist mit lauter schwarzen Häusern mit Skulpturen daran. Abends zuhause im
Zimmer gearbeitet.
–
9. [Mai]
(Sonntag) Früh nach Brügge. Voller Zug, aber jeder hat seinen Sitzplatz. Der Frau-
entyp eindrucksvoll, man versteht, daß Belgien d. Land d. Skulpturen ist. Bruges war
heute keineswegs la morte, da Kirmes war u. d. große Platz so besetzt mit Ringel-
spielen u. Buden, daß keine Nadel zuboden fallen konnte. Waffelbuden mit Spie-
geln in lackiertem Weiß u. spärlichem Gold wie Rokokoboudoirs eingerichtet. In-
mitten dieses Getriebes die stillen Inseln des Johannisspitals („Memlingmuseum“)
und Städtischen Museums (1929 erbaut). Das erstere hat die Haltung angegeben,
in der das neue Museum sich darzustellen wünschte. Wenige Objekte, aller erster
Qualität, gepflegte Darbietung. Obwohl uns gar nichts speziell anging, haben wir uns
so gefangen nehmen lassen, daß alles andere versunken war. In der Frouwenkirche d.
Michelangelo eingebaut in eine hohe schwarze Nische mit anderen (späteren) Mar-
morfiguren – ganz unmöglich. So klein u. so ausgeschüttet durch das Weiß gegen
Schwarz ! Am Rückweg haben wir in Gent einige Züge überschlagen. Hier war d.
Museum nicht ausgeputzt, sondern alles beisammen, noch vermehrt durch immer
neue Erwerbungen. Wie d. Ablagerungsstätte eines Kunsthändlerkonzerns. Dazu war
es zeitweilig finster, Regen prasselte ohne d. Dreck des Glasdaches wegschwemmen
zu können. In d. Erinnerung blieb d. Verspottung Christi von Bosch, wirklich etwas
ganz großes. Jetzt ruhen wir im Hôtel aus bevor wir zu Dr. Goldschmidt Richtung
Uccle fahren.43
10. [Mai]
Die Wohnung geschmackvoll, der Bub Leo schlafen gegangen, die Frau in anderen
Umständen. Der Mann nicht mehr so sehr Schlafmütze, aber doch so oberflächlich.
Dennoch scheint er jetzt seinen Weg gefunden zu haben. Verleger seit einem Jahr, bis
zu einem gewissen Grad offizieller Verleger, da er d. Kataloge der „Beaux-Arts“ Aus-
stellungen macht. Das netteste der (bisher) erschienenen 4 Hefte ist die Zerlegung in
makro-aufgenommene Details d. Bosch in Lissabon. Er hat uns Gesamt- u. Detail-
aufnahmen eines großen Bildes (165 x 170 ? bez[iehungsweise] umgekehrt) Gastmahl
d. Esther gezeigt, das ein ganz früher großformatiger Rembrandt sein soll u. von
allen Rembr[andt]kapazitäten als solcher anerkannt wird (nur Degener hat sich nicht
geäußert, nach Goldschmidts Meinung, weil das Rijksmuseum kein Geld hat und es
doch, wenn es das Bild als Rembrandt anerkennt, es auch kaufen müsste). Mein erster
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien