Seite - 118 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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Tagebuch 1937/2
(d. h. für 3 Personen und Mitte), aber d. Überfahrt war abscheulich. Fast noch im Ha-
fen begann ein solches Gewackel, daß alle Leute fluchtartig sich in d. Kabinen u. die
horizontale Lage stürzten. So lagen wir knapp nach 9h schon (das Schiff war wieder
mit großer Verspätung abgefahren) u. konnten den peinlichen Geräuschen um uns
herum lauschen. Wenn ich auch gar nicht selbst belästigt war oder ankämpfen mußte,
so war d. Gestampf d. Maschine so furchtbar, daß ich doch nicht einschlafen konnte.
Gegen 6 kamen wir an u. gegen ½ 8 brachte dann d. Stewart das heiße Wasser zum
Rasieren. Wir frühstückten auf dem Schiff (die Extravaganz einer Grapefruit aus-
genommen zum ersten Mal kontinental), sahen noch ein Weilchen den Ausladern
zu, nahmen von d. Möwen Abschied und gingen an Land. Die Kofferrevision war
nur eine Farce mit d. Kreide. Das Wetter ist momentan trocken, die Luft wie an
einem kühlen Aprilabend. Für heute versprechen wir uns weder kunsthist[orische]
noch landschaftliche Sensationen. Es soll – in Leeds – ein Ausruhtag sein, der uns
für d. Rezeption d. nächsten Tage wieder empfänglich machen soll. Ob es zu dem
Kinobesuch kommen wird, den wir schon die ganzen Wochen in London auf diesen
leeren Tag in Leeds hinausgeschoben hatten ? (Das netteste gestern war doch Anderls
Brief.)
–
7. [Juli]
(Ein Datum, seit langem in unsre Berechnungen gezogen, einzige Möglichkeit
den Zeichnungenschlüssel in Harewood zu erwischen !) Gestern früh u. gestern
abend haben wir etwas herziges erlebt. In d. früh beim Frühstück auf d. Schiff hat d.
Obersteward in d. Küche d. Bestellung einer Sausage with eggs mit dem Nachsatz
hinunter telephoniert : „For a gent !“ Es war d. Bestätigung, daß Hans in Dublin, ohne
daß darüber weiter gesprochen wurde zwei Spiegeleier zu seinem Schinken bekam u.
ich nur eines. Das zweite war abends in unserem ital[ienischen] Restaurant, da fragte
uns unser ganz junger bebrillter Kellner, ob wir Rolls wollten oder Viennese Bread.
Ich fragte ihn, wie denn letzteres wäre. Er konnte nicht beschreiben, redete mir aber
besonders zu, daß es really a very fine bread wäre. Es kam dann ein Stück Stange, wie
man sie in Paris bekommt. Ich sagte d. Kellner, daß diese Art Brot in Wien gar nicht
existiere, wofür ich absolut einstehen könne, da ich aus Wien komme. Nach eini-
ger Zeit trat er wieder an unseren Tisch heran, sichtlich in undienstlicher Absicht u.
sagte : „An argument arouse among the members of the staff, where Vienna is. Some
say in Spain –.“ Wir waren dann im Cinémac u. sahen einen von d. Madrider Regie-
rung selbst herausgegeb[enen] Film, der d. Entwicklung d. ganzen Ereignisse zeigen
wollte, aber so arm u. dürftig gearbeitet war, daß d. Hilflosigkeit dieses geschlagenen
Volkes durch diese Dürftigkeit doppelt erschütternd wirkte.
–
Wir haben aber kein Wort von unserem Leedser Tag erzählt ! Er war danach. Ein
Museum, das als einzige Qualitätsstücke ein paar Blätter von Whistler hatte, ansons-
ten ein Greuel an Bequests ! Reiche ach so reiche Familien, die ihre üppig gerahmten
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien