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Tagebuch 1938/2
eine scheußliche Nacht nachher. Und heute früh war ein richtiger Überschwem-
mungsregen, wir fuhren – nachdem uns Marignane einen Gegenbesuch gemacht
hatte, nach Avignon zurück. Hier warten wir auf d. Rückantwort aus Bayonne, ob wir
d. Z[eichnung]en überhaupt sehen können ! Um 4 war das Telegr[amm] noch nicht
da. Nach Burgls Abreise waren wir im Museé Calvet u. sind dann ernstlich schlafen
gegangen. Hans hält noch dort.
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Es ist ½ 7 abends. Was wird der Tag noch bringen ? !
29. [September]
Ich sitze – wo sitz ich ? ich weiß es nicht ! – Auf einem Bahnhof bei Regen, Strecke
Avignon
– Portiers oder besser S. Germain des Fosses
– Portiers, denn in St. Germain
de Fosses haben wir die Fahrt unterbrochen u. genächtigt. Das ist ein ganz unbe-
deutendes Örtchen 12 km von Vichy u. das Wirtshaus hatte zwar den kostspieligen
Namen Hôtel du Parc, aber sonst keine Vorteile d. Neuzeit. Dafür war der Hahn, das
einzige das Lärm machte und das erst zur Frühstücksstunde. Wir haben in Avignon
kein Telegramm aus Bayonne bekommen u. auch keinen telephonischen Anschluß.
Doch haben wir d. Radiorede Chamberlains am 25. abends gehört, deren Ton un-
sagbar wohltuend von dem hysterischen Bierbankgebrüll Hitlers abstach. Die Rede
Chamberlains, die zuerst so hoffnungslos auszuklingen schien u. nachher es doch
nahelegte den anderen „Vermittler“ schon vorauszufühlen. „Ich kann dieser Vermitt-
ler nicht mehr sein.“ D. h. doch : ein andrer wird es sein. Ich hoffte auf Roosevelt –
dachte keinen Augenblick an Mussolini ! In d. Bahn am Nachmittag erreichte uns
die Nachricht ! und zwei Stunden später in d. Abendausgabe die zweite der Sitzung
Daladiers Chamberlains Mussolinis mit Hitler in München. Die war heute, d. h. zwei
Sitzungen sollten heute sein, die letzte morgen, Freitag d. letzten früh. Und solang d.
Sitzungen dauern, keine deutsche Mobilisierung
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Die Züge sind voll, aber schließlich bekommt jeder Platz. Sie sind nicht nur durch
d. Einrücker voll (es ist jetzt Karte 3, dann 2 und noch 8 einberufen), noch mehr
durch den Schulanfang u. die vielen Leute, die die ital[ienischen] Grenzstädte verlas-
sen. Viele Pariser fahren trotz alledem nach Paris, pour régler les affaires, um nachher,
wenn’s zum Krieg kommt, wieder aus Paris zu fliehen. Die Zeitungen sind voll mit
Aufklärungen über d. Evakuierung der großen Städte
…
Wir haben Bayonne eigentlich aufgegeben. Finden wir d. Museum in Poitiers of-
fen, sodaß wir die Z[eichnung]en durchsehen können, wollen wir auch d. Nachbarorte,
die wir auf d. Programm haben, in d. nächsten Tagen aufsuchen. Wenn es dennoch
zum Krieg kommt, was wir absolut nicht glauben können, ist es uns gleichgültig, ob
die französ[ische] Generalmobilisierung u. d. Ausbruch uns in Poitiers oder sagen
wir Angers überfällt. Aber wir sehen die kleinen Orte, durch die wir durchkommen,
schon daraufhin an, ob sie zum „Daueraufenthalt“ geeignet sind
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 346
- Kategorie
- Biographien