Seite - 197 - in Existentialismus in Österreich - Kultureller Transfer und literarische Resonanz
Bild der Seite - 197 -
Text der Seite - 197 -
deshalb,weil er Schriftsteller ist, sondern vielmehr,weil erMensch ist. ErmußdieseVer-
antwortlichkeit lebenundwollen […]. Für ihn geht es nicht darumzuwissen, ob er einen
neuen literarischen „-ismus“ insLeben ruft, sonderndarum, sich inderGegenwart zubin-
den.Nicht eine ferne Zukunft vorauszusehen, vonder aus er sichnachträglich beurteilen
kann,sondernvoneinemTagzumanderndieunmittelbareZukunftanzustreben.260
(Sansdoute l’œuvreécriteestunfaitsocialet l’écrivainavantmêmequedeprendre laplume
doitenêtreprofondémentconvaincu. Il faut, eneffet,qu’il sepénètredesaresponsabilité. Il
est responsable de tout: des guerres perdues ou gagnées, des révoltes et des répressions; il
est complicedesoppresseurss’iln’estpas l’alliénatureldesopprimés.Maisnonpoint seule-
mentparcequ’il est écrivain:parcequ’il esthomme.Cette responsabilité il doit lavivreet la
vouloir […]. Il ne s’agit paspour lui de savoir s’il vadéterminerunmouvement littéraire en
„isme“,maisdes’engagerdans leprésent.Nondeprévoirunaveniréloignéd’où il sepuisse
jugeraprèscoup,maisdevouloiraujour le jour l’avenirprochain.)261
Durch den Druck des Krieges plötzlich situiert („brusquement situé“), hätten
die AutorInnen die eigene Geschichtlichkeit erfahren und könnten nur mehr
ausder Subjektivität ihrerGegenwart herausLiteratur verfassen; in allem,was
sie schrieben, mache sich ein geschichtlicher Beigeschmack („un goût d’his-
toire“262) bemerkbar. Sich über den Zeitlauf zu erhebenundGeschehnisse aus
derVogelperspektivezubeurteilen, jenesbei früherenSchriftstellerInnensobe-
liebteÜberfliegen („survol“263), sei damit verunmöglicht.Vielmehrherrscht, so
GabrielMarcel in seinemNachwort zuPaul-AndréLesortsRomanAufHerzund
Nieren,der 1955 inGrazbeiStyriaerscheint, inzwischen
eineAbneigunggegeneineTechnik, diebeimSchriftsteller dasunbegreiflicheVermögen
voraussetzt, über seinen Geschöpfen zu schweben und uns von dem, was sie sind und
was ihnenzustößt, eineGesamtschauzugeben. ImwirklichenLeben ist siekeinemgege-
benundkannkeinemgegebensein.264
Diese Abneigung ist auch bei österreichischen LiteratInnen und Literaturkriti-
kerInnen auszumachen, etwa bei Eva Priester, die 1946 in „Die Aufgaben der
österreichischenLiteratur“ (vor)gestrigeWerkebeanstandet, dieunter dempo-
litisch legitimiertenMotto„Schnellvergessen!“denBuchmarktdominieren:
260 Sartre:DieNationalisierungderLiteratur,S. 180f. (Hervorhebung imOriginal).
261 Sartre:LaNationalisationde la littérature,S. 51 (Hervorhebung imOriginal).
262 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S. 213 (Hervorhebung imOriginal), 214.
263 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S. 213.
264 GabrielMarcel:Nachwort. In:PaulAndreLesort:AufHerzundNieren.Graz 1955,S. 555–
561, hier S. 556. Die Übereinstimmungdes katholischenRomanciersmit den ExistentialistIn-
nen führt Marcel auf die historischen Umstände zurück, da Lesort „diese Gedanken in der
Kriegsgefangenschaft ausarbeitete, also zu einer Zeit, da er von denWerken der Existentia-
listennochkeineKenntnishabenkonnte.“
6.4 LittératureengagéezwischenSprachskepsisundEngagement 197
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur