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„einerbestürzendennachtwandlerischenSicherheit“zueigengemachthabe:Als
„einerderweitausbedeutendstenGeisterdieses Jahrhunderts“und„dankseiner
überragendenGabe, alles, auchdasKompliziertestemeisterlich zuerklärenund
dasAbwegigsteüberzeugenddarzulegen“, seiSartre fähig,Andersdenkende„ins
Unrechtzusetzen“,weshalbSperberes ihm„heftigeralsallenanderenaufsent-
schiedenste übelgenommen“ hat, „der wirksamste intellektuelle Propagandist
derstalinschenundpoststalinschenPolitik“216gewordenzusein.
Sartres Heranrücken an den Kommunismus und damit auch seine beiden
Wien-Aufenthalte seienVersuche gewesen, zwanzig Jahre zurückliegende Fehl-
urteile zukompensieren,deutetSimonedeBeauvoir imRückblickan.Nachdem
ZweitenWeltkrieg,derSartresLebenzweiteiltundpolitisiert,kommter fürein in
seinenAugen historisches Ereignis („un événement historique“217), denVölker-
kongress, nachWien, nachdem er 1934 zwei Reisen dorthin aufgrund histori-
scher Ereignisse verworfen hat. Zunächst lassen die Februarkämpfe 1934
BeauvoirundSartreeinevonBerlinausgeplanteReiseabbrechen,wieBeauvoirs
MemoirenLaForcede l’âgeaufklären:
Währendmeines Berlin-Aufenthaltes [wo Sartre seinerzeit Husserl studiert] versuchten
die österreichischen Sozialisten die Unzufriedenheit der Arbeiter auszunutzen, um der
AusbreitungdesNazismusentgegenzuwirken;sieorganisierteneinenAufstand,denDoll-
fuß im Blut erstickte. Dieser Fehlschlag deprimierte uns. Wir wollten dem Rad der Ge-
schichte nicht in die Speichen greifen, wollten uns aber einbilden, es drehe sich in
unseremSinne.218
(Pendantmon séjour, les socialistes autrichiens tentèrent d’exploiter lemécontentement
ouvrier pour s’opposer à lamontée du nazisme; ils déclenchèrent une insurrection que
Dollfussécrasadans lesang.Cetéchecnousassombritunpeu.Nous refusionsde toucher
à la rouede l’Histoire,maisnousvoulionscroirequ’elle tournaitdans lebonsens.)219
Ein noch deutlicherer Hinweis auf ihre apolitische Vorkriegsposition folgt in
Beauvoirs Kommentar zum zweiten, von Prag aus geplanten, aber wiederum
wegen politischer Zwischenfälle ausbleibenden Wien-Besuch, nachdem der
austrofaschistische Kanzler Dollfuss beim nationalsozialistischen Juli-Putsch
1934 imBundeskanzleramt inWienerschossenwordenwar:
Wir hatten vor, nachWien zu fahren. Als wir aber eines Morgens das Hotel verließen,
sahenwirMenschenansammlungen auf der Straße. Die Leute rissen sich umZeitungen
mitRiesenüberschriften, indenenunsderNameDollfußauffiel undeinWort, dasmitM
216 Sperber:NureineBrückezwischenGesternundMorgen,S.41,43.
217 Sartre:Ceque j’aivuàVienne,c’est laPaix. In:LesLettres françaises,01.–08.01.1953.
218 Beauvoir: IndenbestenJahren,S. 155f.
219 Beauvoir:LaForcede l’âge,S. 207f.
8.2WendepunktWien:SchmutzigeHände 307
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Titel
- Existentialismus in Österreich
- Untertitel
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Autor
- Juliane Werner
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 378
- Kategorie
- Kunst und Kultur