Seite - 107 - in Friedensgutachten 2020 - Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
Bild der Seite - 107 -
Text der Seite - 107 -
offensive Absichten zu erkennen. Nationale Sicherheitsstrategien identifizieren staat-
lich gelenkte Cyberattacken als ernstzunehmende Bedrohung. Die Militarisierung
des Cyberraums ist an verschiedenen Indikatoren ablesbar: dem Ausbau militärischer
Strukturen, der Entwicklung von Doktrinen und Budgets sowie der Einbettung von
Cyberattacken in laufende militärische Operationen.
Nahezu alle Groß- und Regionalmächte haben die traditionellen militärischen Opera-
tionsbereiche – See, Luft, Land und Weltraum – um den Cyberraum als fünfte Dimen-
sion erweitert sowie zivile und militärische Cyberbehörden mit sowohl defensiver als
auch offensiver Ausrichtung geschaffen. Einige Staaten sehen deren Hauptaufgabe im
Schutz der digitalen Infrastruktur, während andere dies als den Beginn einer neuen
Ära des Wettrüstens bezeichnen. So deklarierten bereits 21 Staaten offensive militä-
rische Ziele im Cyberraum (→ Faesen et al. 2019a). Mindestens 31 Staaten verfügen
nachweisbar über eine dezidiert militärische Cyberstrategie (→ Center for Strategic
& International Studies o.J.). Die tatsächliche Zahl dürfte deutlich darüber liegen, da
Cyberstrategien und -doktrinen in vielen Ländern unter Geheimhaltung fallen. Der-
selbe Vorbehalt betrifft militärische Cyberausgaben, die in der Regel klassifiziert oder
aufgrund überlappender Zuständigkeiten nicht vergleichbar erfasst werden können.
Marktanalysen erwarten allerdings eine Steigerung der weltweiten militärischen
Cyberbudgets von derzeit 13,8 Mrd. US-$ 2019 auf 16 Mrd. US-$ im Jahr 2023 (→ Orr
2019). Weltweit führend sind die USA, die 2019 8,5 Mrd. US-$ für militärische Cyber-
kapazitäten ausgaben; das sind 4 % mehr als im Vorjahr (→ Morgan 2019). Verlässliche
Zahlen für das chinesische oder russische Budget liegen nicht vor.
Prinzipiell können militärische Cyberausgaben sowohl in defensive als auch in offensi-
ve Kapazitäten fließen. Aus friedenspolitischer Sicht ist beunruhigend, dass offensive
Cyberoperationen nicht mehr „nur“ in die Planung militärischer Einsätze integriert
werden. Vielmehr werden sie zu tragenden Säulen der Cyberabwehr und -abschre-
ckung in Friedenszeiten. Das hat Folgen für Bereiche wie die Integrität demokrati-
scher Wahlen, die traditionell nicht durch das Militär geschützt werden. Das Vision
Statement des US-Cyberkommandos sowie die 2018 revidierte militärische Cyberdok-
trin der USA sind tonangebend. Sie lassen die eher reaktive Doktrin der Obama-Ära
hinter sich, nennen China und Russland explizit als Bedrohung und orientieren sich
an den Leitprinzipien persistenter Aktionen und der Vorwärtsverteidigung. Demnach
sollen potenzielle Attacken bereits an ihrem Ursprung unterbunden werden. Das setzt
den kontinuierlichen Zugriff auf Netzwerke potenzieller Gegner und eventuell auch
Präemptivschläge voraus. Die Entwicklung zukünftiger Angriffsoptionen, etwa durch
Platzierung „logischer Bomben“, wird als Mittel der Abschreckung gerechtfertigt.
Was das in der Praxis bedeutet, verdeutlichte die US-amerikanische Reaktion auf die
russische Desinformation während der US-Kongresswahlen 2018. Nicht nur störte Staaten verfügen
zunehmend über
militärische Cyber-
strategien
US-amerikanische
Cyberstrategie ist
offensiv ausgerichtet 3
107
friedensgutachten / 2020
Friedensgutachten 2020
Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Titel
- Friedensgutachten 2020
- Untertitel
- Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-5381-0
- Abmessungen
- 21.0 x 28.5 cm
- Seiten
- 162
- Schlagwörter
- Frieden, Bewaffnete Konflikte, Sicherheit, Internationale Politik, Entwicklungszusammenarbeit, Krieg, Gewalt, Politik, Konfliktforschung, Globalisierung, Politikwissenschaft
- Kategorie
- Recht und Politik