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„Klarheit,Wahrheit undFreiheit desDenkens unddesEmpfindens“ von
AgnesvonLilien,dem„Gleichgewicht ihrerSeele“undihrem„Fernseinvon
jederVerwirrung“und hebt – ganz demklassizistischen Frauenideal ent-
sprechend – hervor, dass dieHeldin nicht der „abgesonderte[n] phanta-
sielose[n]BeschäftigungdesVerstandes“, sonderndemGefühldenVorzug
gebe. Tatsächlich verkörpere dieHeldin, soTouaillon, das Ideal der „an-
geborene[n] Orientierung der Frau in der moralischen Welt“ und sei
gleichberechtigt „neben Gretchen, Klärchen,Marianne und andere Ge-
stalten des Klassizismus“75 zu stellen. (Touaillon 1919, 474–475) Vehe-
mentwidersprichtTouaillonderjenigenForschungsliteratur,dieAgnesvon
Lilieneine„SelbstbiographieinRomanform“nennt.(Touaillon1919,478)
In Wirklichkeit sei die Romanhandlung aus Motiven der älteren Ro-
mantraditionzusammengesetztunddort,wotatsächlichÄhnlichkeitenmit
Wolzogens Leben auszumachen seien,werdendiese,wie es der „Kunstat-
mosphäreundKunstauffassungeinesklassizistischenRomans“entspricht,
ineine„idealeFerne“gerückt, sodass„voneinemsklavischenAnschluß[an
ihreBiographie, E.G.] keineRede“ sein könne. (Touaillon 1919, 481)
Seinen großenErfolg verdankeder ursprünglich anonymerschienene
RomanauchnichteinermöglichenautobiographischenFärbung,vielmehr
sei dieser zunächst literarischen Größen wie Friedrich Schiller, Johann
Wolfgang vonGoethe und FriedrichHeinrich Jacobi zugeschrieben und
„allgemein als einWerk empfundenworden […], das von der Linie des
Gewöhnlichen abwich“. (Touaillon 1919, 484)NebenGoethe undWil-
helmHumboldtseienu.a.auchvonCarolineSchellingundCharlottevon
Stein bewundernde Zeugnisse über den Roman erhalten; Christian
Gottfried Körner bezeichnete Agnes von Lilien als die „Arbeit eines vor-
züglichenKopfes“76undHeribertDalbergmeinte „SchillersMeisterhand
zuerkennen“77.NurdieRomantikerschienenmitWolzogensRomannicht
richtig warm geworden zu sein: Friedrich Schlegel revidierte sein an-
fänglich positives Urteil und schrieb den Erfolg des Romans „demCli-
quenwesen und der geringen Kultur des Adels“78 zu, was Touaillonmit
75 Gemeint sindGoethes Frauenfiguren inFaust,EgmontundDieGeschwister.
76 DiesesUrteilKörners zitiertTouaillonnachSchiller/Cotta: Briefwechsel (1876).
Touaillon irrt jedochbei der Seitenangabe, tatsächlich findet sichdasZitatnicht,
wie beiTouaillon vermerkt, auf S. 6, sondern auf S. 193.
77 DieseEinschätzungDalbergsfindetsich,wieTouaillonkorrektvermerkt, indessen
Brief anFriedrichSchiller vom29. Jänner1797.Urlichs (Hg.):Briefe anSchiller
(1877), S. 277.
78 TouaillonfasstmitdiesenWortenFriedrichSchlegelsKritikanWolzogensRoman
zusammen, die dieser in einemBrief anAugustWilhelm Schlegel vom28. und
II. Christine Touaillon
(1878–1928)114
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher