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ein Gesamtbild ergeben sollten,6 sondern setzte sofort auf umfassende
Synthesenbildung:Mit psychologischen,medizinischen, philosophischen
und ästhetischen Erklärungsmustern versuchte sie, die bisher in der
Deutschen Philologie angenommenen, disparaten und scheinbar unver-
einbarenBildereinesfrühenundeinesspätenTieck,einerfrühenundeiner
spätenRomantik, zu revidieren, indem sie anhand derMotive desWun-
derbaren,derDämonieunddesIrrationaleneineinsichgeschlossene,nicht
widersprüchliche Gesamtdeutung des Dichters unternahm. Ebenso auf
Synthesenbildung konzentriert ist Thalmanns Habilitationsschrift Der
Trivialromanund der romantische Roman, in der es ihr aber nicht umdie
einheitlicheGesamtauffassung eines einzelnenDichters, sondernumeine
kontinuierliche Entwicklung zwischen trivialem Bundesroman und ro-
mantischemKunstroman ging; eine Entwicklung, die sie durch umfas-
sendeMotivstudien zubeweisen suchte.7
Hatte sichThalmannmit diesen beiden Schriften nicht nur von der
von Rudolf Haym begründeten, wirkungsmächtigen Teilung des Tieck-
Bilds,8 sondern auch von der auf biographische undwerkgenetische Ein-
zelfragen spezialisierten philologischen Betrachtung der Romantik dis-
tanziert,9 so betrat siemit ihrer nächsten Studie einen ganz anderen, aber
ebenso,wennmanwill, innovativen,10 zumindest aber antiphilologischen
6 Schon überWilhelm Scherer schrieb Josef Körner, dass dieser zu der von den
anderenGermanisten des 19. Jahrhunderts betriebenen „geduldigenMühsal sta-
tistischer Sammlungen, aus denen durch bloße Vergleichung der Tabellen die
Erkenntnis gleichsam automatisch sich ergibt“, keine Neigung hatte. Körner:
DeutschePhilologie [1935], S. 71.
7 Laut Jack Zipes handelt es sich um die „erste umfassendeMotivstudie zur Ro-
mantik“.Zipes:Geleitwort (1976), S. 10 (Hervorh. E.G.).
8 Vgl.Haym:DieromantischeSchule (1870),einezweiteAuflagedeserfolgreichen
Buchserschien1906,einedritte1914,einevierte1920undeinefünfte,vonOskar
Walzel besorgte 1928.
9 Zur germanistischenRomantikrezeption vgl.Kap. III.1.
10 Dass es sich bei ThalmannsTexten um innovative oder zumindest neueAnsätze
handelte,wurde inder zeitgenössischenRezeptionhäufigbetont.AdolfGrolman
bezeichnete Thalmanns Studie Gestaltungsfragen der Lyrik als „Vorläufer und
Anfang“derartigerUntersuchungen, CurtHille als „Neuland“.Grolman:Mari-
anne Thalmann,Gestaltungsfragen der Lyrik [Rez.] (1926), S. 140;Hille:Ma-
rianne Thalmann, Gestaltungsfragen der Lyrik [Rez.] (1926), Sp. 340–341. –
Léon Pineau wiederum meinte, dass es Thalmanns 1928 erschienenem Buch
Henrik Ibsen, ein Erlebnis der Deutschen „nemanque pas d’originalité“ [anOri-
ginalität nichtmangele, E.G.]; dieDie Anarchie imBürgertum von 1932wurde
wiederum als „erste Untersuchung undDarstellung dieser Art“ gelobt. Pineau:
Marianne Thalmann,Henrik Ibsen [Rez.] (1929), S. 309; St.:Marianne Thal-
III.Marianne Thalmann (1888–1975) 141
Germanistik in Wien
Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Titel
- Germanistik in Wien
- Untertitel
- Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933)
- Autor
- Elisabeth Grabenweger
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-045927-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 290
- Schlagwörter
- German literary studies, literary text, history, first female scholars, Wiener Germanistik, Wissenschaftsgeschichte
- Kategorie
- Lehrbücher