Seite - 30 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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30 Eveline G. Bouwers
Alltagsgeschichte oder den Handlungen von individuellen Gläubigen. Zum
anderen ist die Forschungslage gerade für das 19.
Jahrhundert überschaubar.
Zwar liegen einzelne Studien vor, die religionsbezogene Gewalt untersuchen,
doch eine übergreifende Darstellung, die säkular-, intra- und inter-religiöse
Konflikte genauso in den Blick nimmt wie die unterschiedlichen Regionen
Europas und der Welt, gab es bislang nicht64. Dieser Band soll hier einen
ersten Anstoß geben. Einleitend werden dazu einige »Schwesterstudien« vor-
gestellt, die das wechselhafte Verhältnis von Glaube und Gewalt in anderen
Epochen der Neuzeit untersuchen65.
Im Jahr 1973 plädierte Natalie Zemon Davis für eine stärkere Berücksich-
tigung von Religion bei der Erforschung von »religious riots« zur Zeit der
Hugenottenkriege66. Dieser Aufruf klingt zunächst paradox, war doch die
Gewalt, die an den Anhängern der reformatorischen Lehre verübt wurde –
genau wie die Gewalt, die von ihnen ausging – offensichtlich eng mit ihrer
konfessionellen Zugehörigkeit bzw. mit der Andersartigkeit ihres Gegen-
übers verbunden. Doch Davis attestierte der Literatur eine Engführung
auf die politisch-dynastischen Wurzeln des Konfliktes. Im Gegensatz dazu
zeigte sie, dass die Gewaltakte oft religiös motiviert waren; so wurde Gewalt
eingesetzt, um den »wahren« Glauben zu verteidigen und die Gemeinde von
abweichenden Ansichten (in casu Häresie) zu befreien67. Außerdem gestalte-
ten sich die Gewaltformen je nach Konfession anders. So wurden Protestan-
ten häufig ertränkt – was als Bestrafung für ihre Ablehnung des Weihwas-
sergebrauchs galt –, während Katholiken vorrangig Ikonoklasmus ertragen
mussten. Insgesamt wurde Davis Aufforderung, das religiöse Element in
Konflikten im frühneuzeitlichen Alltag stärker zu berücksichtigen, intensiv
diskutiert und rezipiert 68.
Davis Aufsatz bestätigt, dass das Interesse an »religiöser Gewalt« in den
frühen 1970er Jahren nicht auf Anthropologen, Soziologen usw. beschränkt
blieb. Das ist auch deshalb spannend, weil der neuerliche, von Sozialwissen-
Gewalt und Christianisierung im Mittelalter, Paderborn 2013; David Nirenberg,
Communities of Violence. Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton
1996. Die Literatur zur Neuzeit wird gesondert vorgestellt.
64 Die wenigen Studien zum Thema Religion und Gewalt im 19. Jahrhundert setzen
sich oft mit einem bestimmten nationalen oder geographischen Rahmen auseinan-
der; siehe die Referenzen in Fußnote 75.
65 Da der Fokus dieses Bandes auf Katholiken liegt, verweise ich im Folgenden nur auf
Literatur, die den Katholizismus zumindest miteinbezieht.
66 Siehe auch Natalie Zemon Davis, The Rites of Violence. Religious Riot in Sixteenth-
Century France, in: Past & Present 59 (1973), S.
51–91. Zur Entstehungsgeschichte des
Aufsatzes, siehe auch dies., Writing »The Rites of Violence« and After, in: Past & Pre-
sent 214 (2012), S. 8–29.
67 Vgl. Davis, The Rites of Violence, S. 55–59.
68 Eine rückblickende Zusammenfassung dieser Debatte findet sich in Past & Pre-
sent 214 (2012).
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918