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Gewalt und Märtyrertum
Interessanter weise wurden die Sakramente nur bis zu einem gewissen Punkt
verweigert; drohte der Tod, wurde die heilige Ölung dennoch gespendet.
Offensichtlich konnte man den Gläubigen drohen, sie einschüchtern und
öffentlich als »Schismatiker« bzw. »Ketzer« verurteilen, aber es galt zu ver-
meiden, dass sie außerhalb der Kirche – und damit als endgültig verloren –
starben63. Zum zweiten Widerstandstyp (»materieller Zwang«) gehörten
verschiedene Formen von Erpressung. Er wurde praktiziert von Wohltätig-
keitseinrichtungen, die den Bedürftigen Almosen und Brotkörbe entzogen,
wenn ihre Kinder nicht die »richtige« Schule besuchten; von Kommunalbe-
hörden, welche die Sanierung von Schulgebäuden sowie Schulpreisen ver-
weigerten und die Lehrergehälter reduzierten; von Vermietern und Arbeitge-
bern, die mit Kündigung und Entlassung drohten; oder von Gläubigen selbst,
die Geschäfte mit der »falschen« Gesinnung boykottierten. Katholiken hat-
ten keineswegs ein Monopol auf dieser Handlungsweise; in den Briefen des
Brügger Klerus, aber auch in der parlamentarischen Schulbefragung, gibt es
reichlich Beispiele von Liberalen, die ähnlich agierten64. Doch da gerade auf
dem Land konservativ-katholische Kräfte oft die lokale Wirtschaft bestimm-
ten, waren vor allem sie in der Lage, Unterstützung für den eigenen Grund-
schulunterricht zu erzwingen.
Die dritte Kategorie, Gewalt, war oft symbolischer Natur. So schrieb man
den Unterstützern des Schulgesetzes verschiedenste Krankheiten – u.a. die
Krätze und »nagende und stinkende Würmer im Gehirn« – zu und wertete
diese als »Strafe Gottes« für den Besuch der Gemeindeschule (das Krank-
sein von Katholiken wurde hingegen als »göttliche Prüfung« vorgestellt)65.
Genau wie die Bezeichnung der Reformbefürworter als »Geusen«, »Judas-
sen«, »Esel«, »Schweine«, »Diebe«, »Mörder«, »Monster«, »Ungeheuer« usw.,
diente der Verweis auf Krankheiten – was an Vorgänge in der Bibel erin-
nert – der Herabwürdigung des religiös-weltanschaulichen Anderen. Die
Zerstörung von Bildnissen eines Gemeindelehrers oder Bildungsministers
fungierte ähnlich. Überdies gab es Fälle von physischer Gewalt, und zwar
nicht nur in Heule. In Brügge brachen kleinere Unruhen aus, als man ver-
suchte, einige Kongregationisten zu entfernen, genau wie in Langemark
– wo
63 E. De Cauck am 7.
Januar 1882 in Zottegem, in: Chambre des Représentants, Enquête
scolaire: procès-verbaux, Bd. 2–1, S. 128; Sylvain Van Renterghem am 27. September
1880 in Brügge, in: Ebd., Bd. 2–1, S. 595; Lodewijk Rogiers am 20. October 1880 in
Kortrijk, in: Ebd., Bd. 2–2, S. 1114.
64 Vgl. »Adinkerke«, »Avelghem«, »Dixmuide« und »Iseghem« in: BAB B 365 bis. Siehe
auch Desideer De Cuyper am 20. October 1880 in Kortrijk, in: Chambre des Re-
présentants, Enquête scolaire: procès-verbaux, Bd. 2–2, S. 1097–1099; Leo Ide am
28. April 1881 in Waarschot, in: Ebd., Bd. 2–2, S. 1146.
65 Camiel Delaruelle am 27. Februar 1882 in Oosterzele, in: Ebd., Bd. 2–1, S. 371;
Jozef Mertens am 15. September 1881 in Herzele, in: Ebd., Bd. 2–2, S. 1218; Jozefina
Ruynaert am 22. September 1881 in Herzele, in: Ebd., Bd. 2–2, S. 1248–1249.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918