Seite - 84 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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84 Eveline G. Bouwers
die Priester und Lokalbehörden »größere Unglücke« seitens des »erbitter-
ten« Volkes vermeiden konnten – und Veurne (auch hier standen »blutige
Unruhen« kurz bevor)66. In Hofstade hatte der Pfarrer zur Eröffnung der
freien Grundschule eine feierliche Prozession angekündigt, die vom Bürger-
meister, der bereits die Beflaggung der Häuser und das Manifestieren durch
auswärtige Besucher verboten hatte, eingeschränkt wurde67. Daraufhin grif-
fen Katholiken die Kommunalbehörde an, attackierten das Haus des regie-
rungstreuen Wachtmeisters und überwältigten einen Gendarm, der dabei
seinen Karabiner verlor; kurz darauf wurden zwei Schüsse in der Decke des
Wachtmeisterhauses gefeuert und man verbrannte die Effigie eines Gemein-
delehrers. Der Protest schlug auf die benachbarte Stadt Aalst über, wo die
Katholiken sogenannte »Geusen« (darunter den Schulinspektor und Mitglie-
der des parlamentarischen Ausschusses) verbal und körperlich angriffen68.
Des Weiteren gab es Fälle, bei denen die Anhänger der Schulreform oder
gar Schulkinder bespuckt, mit »totschlagen« bedroht, verfolgt, mit Schlamm
und Steinen beworfen sowie verprügelt wurden. Zudem wurden Fenster (von
Wohnhäusern, Läden und Schulgebäuden) zerbrochen, »gottlose« Schulbü-
cher beschmiert oder zerrissen sowie Schulmaterial zweckentfremdet und
Schultafeln heruntergerissen.
Neben der förmlichen Vielfalt des katholischen Widerstandes, weist
auch das Verhalten der Katholiken einen beträchtlichen Pluralismus auf. So
beklagten sich die Zeugen vor allem über die Kaplane, deren angriffslustiges
Agieren sie negativ mit dem eher gemäßigten Auftreten mancher Pfarrer ver-
glichen69. Diese innerklerikale Distinktion kehrt in der Befragung mancher
Pfarrer zurück, die sich unter dem Vorwand, sie wären mit dem Verhalten
ihrer Kaplane gar nicht bekannt, von ihren Mitarbeitern distanzierten70.
Darüber hinaus gab es Priester, die jede Unterstützung des Schulgesetzes
anprangerten und darauf bestanden, dass »das Gesetz von Gott« über dem
»Gesetz des Landes« stand, aber auch solche, die nur die »bischöflichen Vor-
schriften« befolgten oder lediglich den »wirklich freiwilligen« Unterstützern
66 Für Brügge: L’ Indépendance Belge, 4. Oktober 1880. Für Langemark: Verhaegen,
La lutte scolaire, S. 300–301; »Langemark« in: BAB B 365 bis. Für Veurne: »Veurne«
in: BAB B 365 bis.
67 Bericht der Gendarmerie von Hofstade, 7. Oktober 1880, in: RAG/PV G/38/3. Siehe
auch Le Bien Public, 11. Oktober 1880; Het Handelsblad van Antwerpen, 5. Oktober
1880; L’ Écho du Parlement, 5. Oktober 1880.
68 Het Handelsblad van Antwerpen, 5. Oktober 1880; L’ Écho du Parlement, 5. Oktober
1880; L’ Indépendance Belge, 6. Oktober 1880.
69 Zu den möglichen Gründen für die Kampfbereitschaft der Kaplane gehören der
Eifer, der mit ihrem Alter und Karrierebewusstsein zusammenhängt, aber auch die
Tatsache, dass sie
– mehr noch als die Pfarrer
– in einer ultramontan militanten Kir-
chenstruktur erzogen wurden.
70 Jan-Frans Van Cleemputte am 15. September 1881 in Herzele, in: Chambre des Re-
présentants, Enquête scolaire: procès-verbaux, Bd. 2–2, S. 1230.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918