Seite - 105 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
Bild der Seite - 105 -
Text der Seite - 105 -
105Katholischer
Pluralismus und die Gewalt der religioneros
sie etwa dem »Heiligsten Herz Jesu« und »Unserer Lieben Frau« in Lourdes
galten. Kulturelle Reformen sollten schließlich die bisweilen ungestüme und
gesellige, volkstümliche Religiosität Mexikos durch nach innen gerichtete
und durch den Klerus besser kontrollierbare Praktiken ersetzen.
In der Tat sieht es so aus, als hätten manche Kirchenobere im von der libe-
ralen Regierung verhängten Verbot der öffentlichen Religionsausübung eine
Gelegenheit erkannt, volkstümliche Gebräuche zu reformieren. In León z.B.
nahm Bischof Diez de Sollano 1867 das Verbot von Sakramentsprozessionen
zum Anlass, auch andere, mithin populärere Prozessionen zu verbieten. Wie
er erklärte:
[U]nter den gegenwärtigen Umständen wird man keinerlei Art von Prozessionen
gestatten, denn dies würde darauf hinauslaufen, das Volk zu betrügen, indem man
es glauben macht, dass man den Bildern mehr Verehrung schuldet als dem Heiligs-
ten Sakrament, und so lange letzteres nicht in der Fronleichnamsprozession, die zur
dogmatischen vorgeschriebenen Liturgie gehört, [aus der Kirche] getragen werden
darf, dies zur Sterbekommunion nur im verborgenen geschieht, kann keine Erlaubnis
für die Prozessionen von Bildern gegeben werden, solange die Kirche ihre kanonische
Freiheit nicht wiedererlangt hat39.
Der Bischof stellte damit die zahllosen volkstümlichen Kulte Mexikos unter
das von der Kirche vorgeschriebene Mysterium der Transsubstantiation; die
Verantwortung dafür konnte er der liberalen Gesetzgebung zuschieben. Die
drei Erzbischöfe des Landes nahmen eine ähnliche Haltung ein. In einem
gemeinsamen Hirtenbrief riefen sie 1875 die Gläubigen auf, solche mit
Feiertagen verbundenen Missbräuche wie Tanz, Trunkenheit und Glücksspiel
auszurotten40. Ultramontanen Reformern schwebte eine Religion vor, die
privater und reglementierter sein würde, losgelöst von den kollektiven,
öffentlichen Feierlichkeiten der kolonialen Vergangenheit. Es liegt eine
gewisse Ironie darin, dass die Reformer zuweilen die liberalen Einwände
gegen die mexikanische Religiosität – sie sei exzessiv, irrational und ganz
nach außen gerichtet – wiederzugeben schienen41.
Doch der Ultramontanismus stärkte auch die Stellung der Laien, indem er
das Wachstum neuer geistlicher, karitativer und pädagogischer Vereinigun-
gen förderte, wie sie sich zwischen 1840 und 1877 in Mexiko vervielfachten42.
39 José María de Jesús Diez de Sollano, Vigésima prima carta pastoral que el Ilmo.
y Rmo. Sr. Obispo de León, Dr. y Maestro. D. José María de Jesús Diez de Sollano y
Dávalos dirige a su Ilmo. y v. cabildo, señores curas, y v. clero, León 1879, S. 31f.
40 Instrucción pastoral, S. 313f.
41 Vgl. Stauffer, Victory on Earth, Kap. 2.
42 Zur wachsenden Bedeutung des katholischen Verbandswesens vgl. Cecilia Bautista
García, Las disyuntivas del Estado y de la Iglesia en la consolidación del orden libe-
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918