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106 Brian A. Stauffer
Mit ihrer modernen, auf Freiwilligkeit basierenden Struktur boten solche
Organisationen Katholiken aus der Mittelschicht und insbesondere Frauen
neue Wege zur Teilnahme an religiösen Leitungsaufgaben auf lokaler Ebene.
Andachtsgruppen wie die »Vela Perpetua« – eine weiblich dominierte Lai-
enorganisation, die sich der immerwährenden Andacht vor dem Sakrament
verschrieb –, sowie Vereinigungen, die sich der Sozial- und Bildungsarbeit
widmeten, insbesondere die »Sociedad Católica«, waren vielerorts in Mexiko
erfolgreich. Zuweilen liefen sie gar den indigenen Bruderschaften und Fran-
ziskanerhospitälern aus kolonialer Zeit den Rang ab43. Ihre Aktivitäten
hatten zudem den Segen des Klerus, der im Wesentlichen seine politische
Arbeit aufgegeben und sich der Rekatholisierung der Zivilgesellschaft zuge-
wandt hatte. Tatsächlich hatten die Erzbischöfe in ihrem Hirtenbrief von
1875 zur »kollektiven Aktion« aufgerufen, mittels derer der Antiklerikalis-
mus zu überwinden sei. Katholiken wurde empfohlen, Vereinigungen wie
dem Laienrat der Vinzenzgemeinschaft beizutreten, um die Verbannung der
Vinzentinerinnen auszugleichen. Um dem säkularen Bildungswesen entge-
genzutreten, sollten sie private katholische Schulprojekte unterstützen, und
nach dem Ende der verpflichtenden Kirchensteuer waren sie zu höheren frei-
willigen Beiträgen angehalten. Es war kein Zufall, dass alle diese Aktivitäten
von der Verfassung (Versammlungs- und Bildungsfreiheit) gedeckt waren44.
Die Kirche versuchte auf diese Weise, mit den Mitteln des liberalen
Repub
likanismus den antikirchlichen Zielen der Regierung Lerdo die Spitze
zu nehmen, indem sie eine eher straffe, verinnerlichte und reglementierte
Religiosität propagierte, die dem Verbot des öffentlichen Kultus würde
widerstehen können. An die Stelle öffentlicher Prozessionen traten Übun-
gen in stiller, eucharistischer Andacht oder neuere Formen der geistigen
Wallfahrt, die man sich aus Italien abgeschaut hatte45. Statt ausgelassener
Feiern zu Ehren der Lokalheiligen empfahl die Kirche nun, im Stillen Buße
zu tun und so Pius IX. in spiritueller Solidarität beizustehen. Da der Staat
ral. México, 1856–1910, Mexiko-Stadt 2012, S. 231–286; siehe auch Silvia Arrom,
Volunteering for a Cause. Gender, Faith, and Charity in Mexico from the Reform to
the Revolution, Albuquerque 2016.
43 Zur »Vela Perpetua« vgl. Margaret Chowning, The Catholic Church and the Ladies
of the Vela Perpetua. Gender and Devotional Change in Nineteenth-Century
Mexico, in: Past & Present 221 (2013), H. 1, S. 197–237. Zur »Sociedad Católica« vgl.
Dinorah Velasco Robledo, Institución bendita por Dios. La Sociedad Católica de
México, 1868–1878, in: Franco Savarino u.a. (Hg.), Política y religión en la Ciudad
de México, siglos XIX y XX, Mexiko-Stadt 2014, S. 151–170.
44 Instrucción pastoral, S. 321–332.
45 Zur eucharistischen Andacht siehe auch Chowning, The Catholic Church. Zur geis-
tigen Wallfahrt siehe auch Stauffer, The Routes of Intransigence.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918