Seite - 114 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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114 Brian A. Stauffer
haben, als sie in die Schlacht zogen, andere ein Skapulier, auf dem das Bild
ihres Lokalheiligen prangte78. In der Gegend um Zipiajo aktive religioneros
trugen »gedruckte Gebetsbücher bei sich, die sie als Reliquien bezeichneten,
um zu verhindern, dass sie ohne Beichte stürben«79. Kurzum, die religioneros
kämpften und starben für einen Glauben, der eklektisch, zutiefst lokalistisch
und mitunter eindeutig heterodox war. Überdies war das damit verbundene
Weltbild durch die Reformgesetze in besonderem Maße bedroht und konnte
kaum auf Unterstützung des reformistisch gesinnten Klerus setzen.
Die religioneros scheinen performative und öffentliche Formen der Gewalt
bevorzugt zu haben. In manchen Fällen wurden Beamte von Pferden über
den zentralen Platz des Ortes geschleift; andere wurden dort mit Mache-
ten oder Schrotflinten hingerichtet80. Neben der direkt gegen Amtsträger,
die den Eid geschworen hatten, gerichteten Gewalt war eine Konstante des
Konflikts das Abbrennen kommunaler Archive, in denen die protesta-Akten
lagerten. Dass zuweilen besonders verhasste Beamte mit Vorsatz angegriffen
wurden, legt den Schluss nahe, dass es sich mitunter um Racheakte handelte.
Doch die Indizien deuten auch auf Gründe, die sozusagen »nicht von dieser
Welt« sind. Mit ihren »Reliquien« und Heiligenbannern verlegten die religio-
neros ihren Kampf auf eine höhere Ebene; beim Verbot des öffentlichen Kul-
tus ging es nicht mehr um eine juristische, sondern existenzielle Frage. Die
Reformgesetze kappten die direkte Verbindung zwischen Gott und Mensch,
weshalb die religioneros ihre Schutzheiligen um deren Wiederherstellung
anriefen. In Anbetracht dessen, dass die Eskalation der Aufstände 1875 mit
dem Höhepunkt des liturgischen Jahres (Dezember bis April) zusammen-
fiel, ließe sich gar behaupten, die kollektive Gewalt gegen Funktionäre und
die Zerstörung der Archive habe den Platz des öffentlichen Ritus eingenom-
men: An die Stelle der verbotenen Karwochenprozession wäre demnach der
Marsch auf das Rathaus getreten; statt Feuerwerk an Heiligengedenktagen
gab es Gewehrsalven. Berichte über die Ermordung des Landrats (presidente
municipal) Sabas Osio, eines eingefleischten Antiklerikalen, der die belieb-
ten öffentlichen Rosenkranzgebete verboten hatte, stützen diese Hypothese.
Es heißt, Katholiken hätten den Tod Osios mit Musik und Festlichkeiten vor
dessen Wohnhaus gefeiert81.
78 Andres Villegas Rendón, Zamora, an den Innenminister, Morelia, 29. März 1875,
AGHPEM, Guerra y Ejército, caja 3, exp. 46.
79 El Progresista, 24. Januar 1876.
80 Albino Fuentes Acosta, Puruándiro, an den Innenminister, Morelia, 27. Januar,
1875 AGHPEM, Guerra y Ejército, caja 2, exp. 13; Albino Fuentes Acosta, Puruán-
diro, an den Innenminister, Morelia, 19. März 1875 AGHPEM, Guerra y Ejército,
caja 3, exp. 38.
81 La Bandera de Ocampo, 31. Januar 1875.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918