Seite - 131 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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unter ländlichen Katholiken in der späten Habsburgermonarchie
orthodoxe Ideen gewinnen wollten. Im Sommer 1905 besuchte etwa der
böhmische protestantische Theologe Anton Chráska, der seit einiger Zeit
in Ljubljana / Laibach lebte, Ricmanje, um die Bewohner vom Übertritt in
eine protestantische Kirche zu überzeugen74. Einige Dorfbewohner trafen
sich im Café Balkan in Triest mit einem Gesandten der Prager altkatholi-
schen Gemeinde. 91 Familienväter wären in Ricmanje angeblich bereit gewe-
sen, eine altkatholische Gemeinde unter der Obhut der Prager Gemeinde zu
gründen75. Die Dorfbewohner schienen jedenfalls nicht nur den Katholizis-
mus, sondern allmählich auch die institutionalisierte religiöse Zugehörigkeit
abzulehnen. 1906 meldeten sich mehrere von ihnen als konfessionslos76. Die
Forderung nach einer Pfarrei entwickelte sich immer mehr zu einem Kampf
gegen jegliche Abhängigkeiten – daher interessierten sich auch antiklerikale
Agitatoren für die Ereignisse im winzigen Dorf. Der Sekretär der österrei-
chischen Freidenker-Konferenz, der Böhme Karel Pelant, lobte 1907 den Mut
des Dorfes, »mit Rom abzurechnen« und »praktisch die Trennung von Staat
und Kirche« durchgeführt zu haben77, als ob Ricmanje ein Beispiel antikleri-
kalen Widerstandes geliefert hätte. Ein gewisser Emil Frauer wollte im Dorf
sogar »ein Zentrum einer antikatholischen Bewegung« ins Leben rufen78.
Die Dorfgemeinschaft war aber an radikal-säkularen oder freidenkerischen
Tendenzen nicht interessiert. Die Abkehr von der Kirche war eine Reaktion
und keineswegs das ursprüngliche und eigentliche Hauptziel des dörflichen
Widerstandes. Die Dorfbewohner unterschieden insofern zwischen der
Amtskirche und dem römisch-katholischen Glauben
– dem letzteren wollten
sie, solange es möglich war, treu bleiben.
Ende 1906 bekam das Dorf einen neuen Kaplan, den jungen, slowenisch-
sprachigen Priester Jakob Ukmar, der bereit war, aus Triest nach Ricmanje
umzuziehen. In mehreren Briefen und Kirchenbucheinträgen schilderte er
die Zustände im Dorf, in dem ein funktionierendes Kirchenleben infolge der
Gewaltakte und Drohungen immer weniger möglich wurde. Das Dorf war
zwar teilweise gespalten79, aber es herrschte eine allgemein feindliche Stim-
mung gegen den neuen Priester vor. Anfang Dezember 1906 berichtete Don
74 Bericht des Landes-Gendarmerie-Commando von Boljunec (13. Juli 1905), in: AST,
C.d. Capodistria, Culto, b. 170, fol. 1249; sowie Bericht des Landes-Gendarmerie-
Commando von Boljunec (15. Juli 1905), in: AST, C.d. Capodistria, Culto, b. 170,
fol. 1247.
75 Bericht des Triestiner Polizei-Präsidiums (30. Dezember 1905), in: AST, C.d. Capo-
distria, Culto, b. 170, fol. 1263.
76 AST, C.d. Capodistria, Culto, b. 170, fol. 232, 243, 251–356, 374, 382–400, 406,
461–481.
77 Neue Freie Presse, 28. August 1907.
78 Bericht der Triestiner Polizei-Direktion (30. März 1906), in: AST, C.d. Capodistria,
Culto, b. 170, fol. 47.
79 Brief von Don Ukmar an Bischof Nagl (6. Dezember 1906), in: ADT, ADT, Gestione
Particolare (Besondere Verwaltung, weiter: GP), 1906 / 82.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918