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265Missionare
als Opfer muslimischer Gewalt?
rika – genauer dessen Finanzierung – im Reichstag im Januar 1889 erfuhr
diese Erzählung eine unmittelbare Weiterverwertung und half die koloniale
Intervention Wissmanns zu begründen. Daraus resultierten erneute sozi-
ale Handlungen: Nicht zuletzt genehmigte das Parlament die Mittel für die
Söldnerarmee und ermöglichte den Einmarsch in Ostafrika.
Ein weiterer Punkt darf dabei nicht vergessen werden: Folgt man den
Argumenten des Historikers Lawrence Mbogoni, löste die gleichzeitige
Ankunft von Mission und DOAG an der ostafrikanischen Küste auch in der
Swahili-Gesellschaft mediale Übertragungen und eine religiöse Aufladung
der gewaltsamen Kolonisierungsversuche aus. Er zitiert das »Utenzi wa Vita
vya Wadachi Kutamaliki Mrima« (»Erzählung vom Krieg der Deutschen an
der Mrima Küste«) von Hemed Al-Buhry. Dieses Swahili-Epos, das für die
Politisierung des Genres am Beginn des Kolonialismus steht, unterstellt der
deutschen Kolonisierung politisch-religiöse Motive. In einem Vers heißt es:
»The infidels studied / The Torah and the Gospel / The books told them / A great
event was imminent / They came and entered«93. Auch für die Politik in der
Swahili-Gesellschaft konnte die Narrativierung der kolonialen Gewaltereig-
nisse genutzt werden: für anti-koloniale Ziele, um die Herrschaft des Sultans
von Sansibar zu legitimieren oder zu unterminieren oder politische Gegner
aus der Swahili-Elite zu stärken.
Die hier beispielhaft beschriebene Zirkulation von Gewalt bedarf weiterer
vergleichender Forschungen. Diese Studie deutet darauf hin, dass der Trans-
fer von Gewalterfahrungen zwischen Kolonie und Metropole in Form nar-
rativierter und medial gerahmter Deutung ein zentrales Strukturmerkmal
kolonialer Herrschaft war. Die Differenz zwischen sozialen Gewalterfah-
rungen und ihren medialen Transformationen, die hier an einem kolonialen
Beispiel herausgearbeitet wurden, verweisen auf ein übergreifendes Problem.
»Religiöse Gewalt« zur Untersuchungskategorie zu machen, erfordert eine
reflexive Ebene, die in modernen Gesellschaften häufig eine (massen-)medi-
ale ist: Sie erfordert Fragen danach, wann, durch wen und mit Hilfe welcher
rhetorischer bzw. medialer Techniken komplexe Gewaltakte so vereindeutigt
werden, dass sie im gesellschaftlichen Diskurs als »religiöse Gewalt« gelten
können. Die Gewalterfahrungen der Menschen auf der Missionsstation Pugu
waren eingebunden in die komplexen – religiöse Beziehung durchaus mit-
einschließenden – Realitäten des beginnenden Kolonialismus vor Ort. Zu
eindeutig »religiöser Gewalt« wurden sie durch die Kommunikationsarbeit
der Mission in Deutschland. Die Vorarbeit zu einer wirksamen Kommuni-
93 Zitiert nach Lawrence E. Y. Mbogoni, The Cross versus the Crescent. Religions and
Politics in Tanzania from the 1880s to the 1990s, Daressalam 2004, S. 28f. Das zeit-
genössische Epos wurde zunächst mündlich tradiert und erst Jahrzehnte später ver-
öffentlicht.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918