Seite - 291 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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291Gewalt,
Religion und Gegenrevolution in Spanien
versucht wurden und zu denen häufig auch die Enteignung von Kirchengü-
tern gehörte, zu unterscheiden. Weniger klar ist hingegen, inwiefern Gewalt
gegen Personen von Gewalt gegen Sachen und Bauten unterschieden werden
sollte, zumal beide ein unmittelbares und gewaltsames Zusammenprallen
mit Religion und Kirche bedeuteten.
An Unterstützern fehlte es der Kirche keineswegs. Über ein Jahrhundert
lang wurde das politische Leben Spaniens von Bürgerkriegen unterbrochen.
Im Jahr 1846 brach ein weiterer Aufstand der Carlisten aus, und nach einem
ausgewachsenen Bürgerkrieg (1872–1876) fochten die carlistischen Milizen
ihre letzten Gefechte in den Reihen General Francos. Kennzeichen des Car-
lismus waren Nostalgie, Reaktion und katholischer Integralismus – ähnlich
wie beim portugiesischen Miguelismus und beim französischen Legitimis-
mus. In den Worten Jordi Canals überlebte der Carlismus als »reaktionäres
Amalgam«, das von Zeit zu Zeit eine Wiedergeburt erfuhr, so auch in den
1930er Jahren8. Als Erben einer langen Tradition des antiliberalen katholi-
schen Monarchismus – der wie die roten Barette der Milizionäre oft vom
Vater auf den Sohn überging – pflegten die Carlisten ein unantastbares Bild
der Vergangenheit9. Nicht umsonst hieß der Carlismus auch Traditionalis-
mus. Doch so stark solche Prägungen auch waren, fanden sie sich keineswegs
nur bei den Carlisten. Ob sie nun Angreifer oder Angegriffene waren: Die an
»religiöser Gewalt« Beteiligten hatten Vergangenes stets deutlich vor Augen.
Die Vergangenheit wirkte in Gegenwart und Zukunft weiter – nicht zuletzt,
weil religiöse und ikonoklastische Gewalt weiterhin in eschatologischen und
theologischen Begriffen gedeutet wurde.
Dieses Thema hat in der Geschichtsschreibung bislang wenig Aufmerk-
samkeit erfahren. Da der Carlismus nur je eine Minderheitsposition darstellte
und die Kirche allerorten in liberale und konservative Flügel gespalten war,
mutet es seltsam an, dass die Vorstellung einer »katholischen Nation« sich in
der spanischen Geschichtsschreibung so hartnäckig hält. Einigen Spaniern
galt die Religion als unabdingbarer Bestandteil der Staatsbürgerschaft und
war gleichbedeutend mit Patriotismus; anderen war sie eher Teil einer abge-
streiften nationalen Vergangenheit. In dieser geschichtlichen Betonung der
parallel verlaufenden Entwicklung liberaler und katholischer Vorstellungen
der Nation spiegelt sich das Kulturkampf-Paradigma, das einen naheliegen-
den Rahmen bildet, um etwa solche Episoden interner Auseinandersetzun-
gen wie das sexenio democrático (1868–1874) zu verstehen.
In diesen turbulenten Jahren zwischen der »glorreichen Revolution« von
1868, der Ersten Republik (1873–1874) und der Restauration der Bourbo-
nen 1875 war es zunächst nur wenig um Religion gegangen. Doch auf die
8 Vgl. Jordi Canal, El Carlismo, Madrid 2000, S. 9–27.
9 Vgl. Jeremy MacClancy, The Decline of Carlism, Reno u.a. 2000, S. 34–73.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Titel
- Glaubenskämpfe
- Untertitel
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Herausgeber
- Eveline Bouwers
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Abmessungen
- 15.9 x 23.7 cm
- Seiten
- 362
- Schlagwörter
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918