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Zur Feststellung der Zurechnungsfähigkeit
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Abwechslungen «, » große Tummheit, Blödsinnigkeit, und Einfalt « die
Vernunft nicht gänzlich aus, so waren sie zumindest strafmildernd zu
berücksichtigen ( Art 11 §§ 3 und 4 ). Wenn das Gebrechen an der Vernunft
für den Richter nicht offensichtlich war, sollte dessen Vorliegen durch
beeidete Ärzte nachgeprüft werden. Auch nach § 5 des Josephinischen
Strafgesetzes galt der freie Wille als nicht vorhanden, wenn eine Person
des Gebrauchs der Vernunft gänzlich beraubt, mithin » unsinnig « war;
wenn die Tat während einer Sinnenverrückung oder im Zustand der Be-
rauschung; vor Erfüllung des zwölften Lebensjahres oder unter unwi-
derstehlicher Gewalt begangen worden war oder wenn der Täter bezie-
hungsweise die Täterin aufgrund eines Irrtums gehandelt hatte. Fehlte
der freie Wille, kam eine Anschuldigung wegen eines Verbrechens nicht
in Betracht. Darüber hinaus untersagte es § 13 dem Richter allerdings,
die gesetzmäßig vorgesehene Strafe zu mildern oder zu verschärfen. Mit
dem Strafgesetz 1803 wurden die bis dahin vertretenen Zurechnungsleh-
ren vom Verständnis der Zurechnungsfähigkeit als biologisch-psycho-
logischer Zurechnungsvoraussetzung abgelöst. Den Begriff des » freien
Willens « vermied das Strafgesetz 1803, es sah ihn bereits im bösen Vor-
satz erfasst.374 Zu den Gründen, die die Zurechnung einer Handlung oder
Unterlassung als Verbrechen ausschlossen, zählte § 2 neben der Berau-
schung, dem jugendlichen Alter, einem Irrtum sowie Zufall, Nachlässig-
keit oder Unwissenheit der Folgen der Handlung wie bisher, » a ) wenn der
Thäter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubet ist; b ) wenn die That
bey abwechselnder Sinnenverrückung zu der Zeit, da die Verrückung dau-
erte, [ … ] e ) wenn die That durch unwiderstehlichen Zwang erfolget [ … ]. «
Gem § 39 lit a StG 1803 galt Verstandesschwäche, die nicht geeignet war,
die Schuld auszuschließen, als Milderungsgrund. Während die lit a ) und
b ) des § 2 StG 1803 unverändert in das Strafgesetz 1852 übernommen wur-
den, fand sich der unwiderstehliche Zwang in lit g ) des § 2 StG 1852 gere-
gelt, nunmehr um die » Ausübung gerechter Notwehr « ergänzt. Die Ver-
standesschwäche stellte nach § 46 lit a StG 1852 einen Milderungsgrund
dar. Dogmatisch unterschied das Strafgesetz 1852 nicht zwischen den ein-
zelnen in § 2 genannten Gründen: Sie alle sollten den » bösen Vorsatz «
ausschließen. So sprach auch Hye noch unterschiedslos von » subjec-
tive[ n ] Entschuldigungs-Umständen oder auch Aufhebungs-Gründe[ n ]
der ( subjectiven ) Imputation eines Verbrechens. « 375 Erst Lammasch
374 Vgl Moos Reinhard, Verbrechensbegriff 241 f.
375 Hye Anton, Strafgesetz 164 f ( Hervorhebungen im Original ).
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Buch Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin"
Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik