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Zur Feststellung der Zurechnungsfähigkeit
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Untersuchung des Geistes- und Gemüthszustandes des Beschul-
digten in der Regel durch zwei Aerzte zu veranlassen.
Dieselben haben über das Ergebnis ihrer Beobachtungen Be-
richt zu erstatten, alle auf die Beurtheilung des Geistes- und Ge-
müthszustandes des Beschuldigten Einfluß nehmenden That-
sachen zusammenzustellen, sie nach ihrer Bedeutung sowohl
einzeln als im Zusammenhange zu prüfen, und falls sie eine See-
lenstörung als vorhanden betrachten, die Natur der Krankheit,
die Art und den Grad derselben zu bestimmen, und sich sowohl
nach den Acten als nach ihrer eigenen Beobachtung über den
Einfluß auszusprechen, welchen die Krankheit ununterbrochen
oder zeitweise auf die Vorstellungen, Triebe, Entschlüsse und
Handlungen des Beschuldigten geäußert habe, und noch äu-
ßere; und ob dieser getrübte Seelenzustand schon zur Zeit der
begangenen That, und in welchem Maße bestanden habe. « 391
Die gerichtsärztlichen Gutachten sollten die Richter in die Lage verset-
zen, das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Zurechnungsfähigkeit so-
wie allfälliger Strafmilderungsgründe im Einzelfall zu beurteilen. In
der Gerichtsmedizin führte diese neue Kompetenz zu einer verstärk-
ten Systematisierung der einzelnen geistigen Erkrankungen und der
Untersuchung ihres Einflusses auf die Zurechnungsfähigkeit des Men-
schen. Schwierigkeiten traten dort auf, wo die Grenze zwischen geisti-
ger Gesundheit und Geisteskrankheit, zwischen zurechenbarem Ver-
halten und Unzurechnungsfähigkeit, nicht eindeutig zu ziehen war.
Diesem Umstand sollte durch die Annahme unterschiedlicher Grade
der Zurechnungsfähigkeit beziehungsweise der Möglichkeit einer ver-
minderten Zurechnungsfähigkeit Abhilfe geschaffen werden.392 Als pro-
blematisch erwies sich, dass § 134 StPO 1873 zwar die Bestimmung des
§ 95 StPO 1853 fast wortgleich übernahm, den Hinweis auf Übergangszu-
stände in Form der verminderten Zurechnungsfähigkeit jedoch aufgab
und nur mehr zwischen Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfä-
higkeit unterschied. Bei entsprechenden Zweifeln war nun allerdings
391 Hierbei wurden die Regelungen des hannoverschen Gesetzes wörtlich übernom-
men, vgl Mayer Salomon, Handbuch des österreichischen Strafproceßrechtes. I.
Band: Entstehungsgeschichte der österreichischen Strafproceß-Ordnung vom 23.
Mai 1873 ( 1876 ) 533.
392 Vgl Greve Ylva, Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der » Criminalpsycho-
logie « im 19. Jahrhundert ( 2004 ) 109.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik