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Die österreichische Reformdiskussion von 1852 bis zum Ersten Welkrieg
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
rechnungsfähigkeit ausgeschlossen werde.549 Dies entsprach aber nur
der bereits geltenden Rechtslage, die eine Untersuchung des Geisteszu-
standes der Beschuldigten vorsah, wenn darüber Zweifel entstanden.550
Obwohl die Reformversuche des Strafrechts bis in die 1930 er Jahre
andauerten, wurde kein weiteres Gutachten des k.k. obersten Sanitäts-
rats in der Frage des strafrechtlichen Umgangs mit gleichgeschlechtli-
chen Handlungen mehr eingeholt. Auch sonst fand keine Einbindung
sexualwissenschaftlicher Experten in die Reformvorhaben statt – statt-
dessen blieben sie darauf verwiesen, in ihren eigenen Schriften zur
Frage einer Reform des » Unzuchtsparagraphen « Stellung zu nehmen.
So verlieh etwa Krafft-Ebing seiner Enttäuschung darüber Ausdruck,
» dass jenen mühevollen Forschungen so wenig Rechnung getra-
gen und die wissenschaftliche Thatsache, dass die durch § 129
des österreichischen Strafgesetzbuches verpönte Handlung für
eine Classe von Menschen ein Naturbedürfniss sei, für eine zum
mindesten › sehr zweifelhafte Behauptung ‹ erklärt wurde. « 551
Obwohl Krafft-Ebing grundsätzlich eine Untersuchung des Geis-
teszustandes bei Strafverfolgung wegen widernatürlicher Unzucht
befürwortete,552 erschien ihm die Ansicht des Strafrechtsausschusses
bedenklich. Schließlich könne schon eine Voruntersuchung wegen
gleichgeschlechtlicher Unzucht genügen, » um den in sie Verwickelten
social zu ruiniren « 553. Außerdem zeichnete sich bereits ab, dass der ju-
ristische Begriff der Unzurechnungsfähigkeit mit psychiatrischen An-
schauungen und dem Zustand der » Konträrsexualen « nur schwer in
Deckung zu bringen war;
» ganz abgesehen davon, dass der Homosexuale durch seine
seelisch körperliche Anomalie an und für sich nicht unzurech-
nungsfähig ist, sondern vielmehr unter einem unwiderstehli-
chen Zwange handelt, sich in einer Art Nothstand befindet. « 554
549 Vgl 916 BlgStenProtAH 10. Session 46. § 186 wurde unverändert als § 193 in die Aus-
schussbeschlüsse zur Regierungsvorlage aufgenommen, vgl 916 BlgStenProtAH 10.
Session 161.
550 Siehe auch Kapitel III.
551 Krafft-Ebing Richard von, Conträrsexuale 25.
552 Vgl Krafft-Ebing Richard von, Lehrbuch 2 235 Fn 1. Siehe auch Kapitel III.
553 Krafft-Ebing Richard von, Conträrsexuale 25.
554 Krafft-Ebing Richard von, Conträrsexuale 25.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik