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Die österreichische Reformdiskussion von 1852 bis zum Ersten Welkrieg
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
vom Landesgericht Wien wegen des teils versuchten, teils vollbrachten
Verbrechens der Unzucht wider die Natur gem § 129 I b StG 1852 an dem
zum Tatzeitpunkt unter vierzehn Jahre alten Oskar Freund und dem
sechzehnjährigen Gustav Steger zu drei Monaten Kerker verurteilt. Mit
Entscheidung vom 12. Februar 1906 bestätigte der Oberste Gerichtshof
das erstinstanzliche Urteil.606 Dieser Fall hatte die » an Skandalprozes-
sen nicht arme Wiener Gesellschaft der Jahre vor 1914 « 607 wie kaum ein
anderer erschüttert.608 Während der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten
Jahrhunderts wurde der homosexuelle » Jugendschänder « 609 zum » Inbe-
griff erworbener Perversität « 610und als verantwortlich für die Ausbrei-
tung der Homosexualität stilisiert. Man nahm an, dass er die männ-
liche Jugend verführte und durch ein einziges » Schlüsselerlebnis « für
immer zu verderben vermochte. Selbst Krafft-Ebing, der insgesamt fĂĽr
die Beseitigung des Straftatbestandes der gleichgeschlechtlichen Un-
zucht eintrat, bezeichnete die » Jugendverführer « als die » gemeingefähr-
lichsten « 611 Päderasten.
Anders fiel das Urteil hinsichtlich des StrafbedĂĽrfnisses bei wider-
natĂĽrlicher Unzucht mit Tieren aus. Hier gab es kein mit der Bewegung
der » Konträrsexualen « gleichzusetzendes öffentliches Eintreten für
606 Vgl Soukup Rudolf Werner, Die wissenschaftliche Welt von gestern. Die Preisträger
des Ignaz L. Lieben-Preises 1865–1937 und des Richard Lieben-Preises 1912–1928
( 2004 ) 89 ( 92 ). Kritisch zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Sternberg Mo-
ritz, Gerichtshalle 1906, 295 f. Die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen § 128 und
§ 129 I b StG 1852 erleichterten die Konstruktion des Bildes des » homosexuellen
Kinderschänders «, vgl dazu auch Weingand Hans-Peter, Invertito – Jahrbuch für die
Geschichte der Homosexualitäten 2011, 60 ff.
607 Mildenberger Florian, » … als Conträrsexual und als Päderast verleumdet … « – Der
Prozess um den Naturforscher Theodor Beer ( 1866–1919 ) im Jahre 1905, Zeitschrift
fĂĽr Sexualforschung 2005, 332.
608 Beer wurde vorgeworfen, vor den Knaben anstößige Reden geführt, ihnen obszöne
Bilder gezeigt, sein Glied entblößt und die Vorhaut hin- und hergeschoben zu
haben sowie die Hand der Knaben an sein entblößtes Glied geführt beziehungs-
weise dies versucht zu haben. Karl Kraus widmete dem Prozess Beer in der Zeit-
schrift » Die Fackel « die Satiren » Erpressung « und » Die Kinderfreunde «, Kraus Karl,
Sittlichkeit und Kriminalität. Ausgewählte Schriften I 2 ( 1908 ) 53 und 183. Für eine
ausfĂĽhrliche Darstellung des Prozesses, seiner Vor- und Nachgeschichte vgl Mil-
denberger Florian, Zeitschrift fĂĽr Sexualforschung 2005, 332.
609 Zur Konstruktion weiblicher Kinderschänderinnen vgl Kerchner Brigitte, Körperpo-
litik. Die Konstruktion des Kinderschänders in der Zwischenkriegszeit, in Hardt-
wig Wolfgang ( hg ), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939
( 2005 ) 241( 251 f ).
610 Vgl Kerchner Brigitte in Hardtwig Wolfgang ( hg ), Kulturgeschichte 264.
611 Krafft-Ebing Richard von, Psychopathia 12 416.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Titel
- Verkehrte Leidenschaft
- Untertitel
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Autor
- Elisabeth Greif
- Verlag
- Jan Sramek Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Abmessungen
- 15.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 478
- Kategorie
- Recht und Politik