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Die Figur der Medusa ist im antiken Mythos
eine ambivalente Gestalt. Ausführlich berichtet
Ovid in den Metamorphosen von ihrem Schick-
sal.6 In Homers Ilias wird nicht ihre Geschichte
erzählt. Vielmehr taucht sie in einer Szene, in der
sich Athene zum Kampf kleidet, schon überwun-
den, als Haupt der Gorgo, „des entsetzlichen Un-
geheuers, furchterregend und gräßlich“ nur noch
als apotropäisches Zeichen besiegter Macht auf.7
Nichts erinnert hier mehr daran, daß Medusa
den Erzählungen nach auch die schönste unter
den drei Gorgo-Schwestern gewesen sein soll.
Dafür, daß sie Poseidon im Tempel der Athene
verführt hatte, wurde sie von der Göttin bestraft
und in ein gräßliches Ungeheuer verwandelt.
Zwischen einer die Blicke anziehenden Schön-
heit und abstoßender Häßlichkeit changiert so-
mit das überlieferte Bild der mythischen Figur.
Diese Doppeldeutigkeit kehrt in all ihren Aspek-
ten wieder: Nicht nur Schönheit und Monster,
faszinierender Anblick und abstoßendes Grauen, sondern auch Bedrohung und Schutz sind in ei-
nem Bild verschmolzen. Vor allem aber Medusas
Blick hat zu immer neuen Deutungen des My-
thos geführt. Von diesem Blick wird erzählt, daß
er alle, die von ihm erfaßt wurden, unmittelbar
zu Stein erstarren ließ.
Die Macht des Blicks, die Gefährdung durch
das eigene Blicken und den Blick der Anderen
wurden von Jean-Paul Sartre mit Bezug auf
den Medusa-Mythos auf die konfliktgeladene
Grundproblematik bezogen, daß wir nicht nur
für uns existieren, sondern in unserer Existenz
immer auch auf andere bezogen sind, daß wir
durch den Blick der anderen inmitten der Welt
immer auch verdinglicht werden. Hierdurch
wird nicht nur unser eigenes sinnliches Erleben
relativiert. Sartre beschreibt diese Grundkonstel-
lation auch als eine existentielle, die eigene Iden-
tität potentiell bedrohende Erfahrung, als „Er-
fassung der Entfremdung meines Leibes“.8 Auch
Jacques Lacan befaßte sich, auf Merleau-Ponty
MEDUSAS BLICK
6 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, M. von Albrecht (Hrsg.), Stuttgart 1994, 4. Buch, S. 229–231. Mit der
Ikonographie der Medusa in der griechischen Vasenmalerei befaßt sich R. Mack, Facing Down Medusa. An aetio-
logy of the gaze, in: Art History 25, Nr. 5, 2002, S. 571–604. Zum Bildmotiv der Gorgo und ihrer apotropäischen
Macht in der Antike, s. I. Krauskopf, Gorgo, Gorgones, in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Bd.
IV/1, Zürich/München 1988, S. 285–345, u. O. Paoletti, Gorgones Romanae, in: ebenda, S. 345–362. Zur Rezepti-
on im Mittelalter und früher Neuzeit, s. J. Seznec, Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition
im Humanismus und in der Kunst der Renaissance, München 1990. Zur Bildgeschichte der Gorgo, des bannenden
und des schrecklichen Blicks in der Kunst der Neuzeit, s. W. Hofmann (Hrsg.), Zauber der Medusa: europäische
Manierismen, Ausstellungskatalog, Wien, Künstlerhaus, 03.04.1987–12.07.1987, Wien 1987.
7 Homer, Ilias, 5.733–742 und ebenda, 11.36 f. Aus der überbordenden Literatur zum Mythos der Medusa sei hier
nur auf einige ausgewählte Werke verwiesen: K. Kerényi, Die Mythologie der Griechen Bd. I, S. 44 f. u. Bd. II,
München 1985, (erstm. erschienen 1951), S. 47–50; K. Heinrich, Floß der Medusa, Basel 1995, sowie die von M.
Garber und N. J. Vickers herausgegebene Anthologie, The Medusa Reader, New York/London 2003, deren Text-
auswahl von Homer bis ins 20. Jahrhundert reicht.
8 Die komplexe Bedeutung des Blicks für die Konstitution des eigenen Selbst und deren untrennbare Verschränkung
mit der Anerkennung des Anderen als Subjekt, erörtert Sartre in: J.-P. Satre, Das Sein und das Nichts. Versuch
einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1993, Kap. IV, Der Blick, S. 338–397. Sartre spricht in diesem
Zusammenhang aber auch von der Erfahrung der Entfremdung, da der Andere mich auch als Gegenstand für sich
konstituieren, ebenda, S. 364 f., und mir sogar meine Subjektivität aberkennen könne, ebenda, S. 378. Vom hieraus
resultierenden „Schrecken der Begegnung mit dem Anderen“, handelt Sartre im Verlaufe der Erörterung immer
wieder, ebenda, S. 455 und S. 456, um schließlich als „tieferen Sinn des Mythos von der Medusa“ die „Versteinerung
des Für-sich durch den Blick des Anderen“ zu betrachten: „Der Andere verleiht bei seinem Auftauchen dem Für-
sich ein An-sich-inmitten-der-Welt-Sein wie eine Sache unter Sachen.“ Ebenda, S. 548.
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Band LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
- Band
- LIX
- Herausgeber
- Bundesdenkmalamt Wien
- Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78674-0
- Abmessungen
- 19.0 x 26.2 cm
- Seiten
- 280
- Schlagwörter
- research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
- Kategorie
- Kunst und Kultur