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Savoy Unschätzbare Meisterwerke
taire Napoléon offensichtlich übernommen. Erst mit dem nächsten Inventaire général des
Musées Royaux aus dem Jahre 1824, das eine ähnliche Struktur behielt, mit erneuter Be-
rücksichtigung der Herkunft, veränderten sich die Schätzpreise: Raffaels Wert stieg deut-
lich (dies entsprach der allgemeinen Entwicklung in Europa), so dass für den Hl. Michael
zum Beispiel der Schätzpreis von 100.000 (1813 und 1816) sich auf jetzt 200.000 Francs
verdoppelte.49 Dafür verlor zum Beispiel Leonardos Mona Lisa an Wert und landete bei
80.000 Francs,50 so wie bei Rembrandt, dessen Tobias zum Beispiel nur noch auf die Hälf-
te des Preises von 1813 geschätzt wurde, sprich 30.000 Francs.51 Hätten die Inventare des
Louvre nach 1824 weiterhin mit einer Spalte PREIS operiert, so ließe sich eine Geschichte
von Konjunkturen und Preiswellen für das gesamte 19. Jahrhundert wunderbar nachzeich-
nen. Leider verzichtete die Direktion bereits ab 1832 auf solche Schätzungen – im damals
angefertigten Inventaire général des Musées royaux spielte der Preis der Kunst keine Rolle
mehr. Das Inventaire Napoléon und seine Nachfolger von 1816 und 1824 blieben eine his-
torische Ausnahme in der Geschichte von Museumsinventaren.
Aus heutiger Perspektive kann man dieses einzigartige Verzeichnis doppelt lesen: wie
ein eindrucksvolles Kompendium des nationalen Kunstbesitzes in Frankreich unter Napo-
leon; aber auch, denkt man etwa von der Spalte HERKUNFT her, wie einen Atlas der Kunst-
geographie Europas vor den großen Umwälzungen durch die Französische Revolution. Er
bietet für eine Autopsie des mächtigen europäischen Kunstkörpers im Moment seiner
größten Konzentration in Paris eine Quelle wie sie nicht präziser sein könnte. Hat man
nämlich allen Grund zu vermuten, dass im napoleonischen Frankreich insgesamt „mehr
statistisches Wissen erzeugt wurde, als je wissenschaftlich und administrativ genutzt wer-
den konnte“,52 so kann man sich im Nachhinein nur darüber freuen, dass so gut wie alle
darin aufgeführten Gemälde, Zeichnungen und Antiken (einheitlich in Francs!) geschätzt
wurden. Eine herrliche Einladung zur nachträglichen Erforschung von Kunst als Kapital ei-
nerseits, von Geschmack als historischer Kategorie andererseits! Mit anderen Worten:
Nicht nur Pierre Bourdieu hätte an der Spalte PREIS des Inventaire Napoléon seine Freude
gehabt – verkörpert sie ja in aller Deutlichkeit seine Idee einer Ökonomie symbolischer Gü-
ter im Museum –, sondern auch alle, die sich anhand von komplexen und weitverstreuten
Indikatoren wie Museumskatalogen, Kunstbüchern, Presseberichten, Gipsabgüssen, Re-
produktionsgraphik, Kopistenlisten und dergleichen mühsam daran versuchen, die Ge-
schichte des europäischen Kunstgeschmacks um 1800 nachzuzeichnen – oder allgemei-
ner: der historischen Bedingtheit von Geschmack auf die Spur zu kommen.
1 Stendhal an Denon, 27. Oktober 1810, AMN Z 3 1810, zitiert nach: Marianne Hamiaux/Jean-Luc Martinez, De
l’inventaire N à l’inventaire MR: le département des Antiques, in: Les vies de Dominique-Vivant Denon, hg. von Daniela
Gallo, Tagungsband, 2 Bde., Paris 2001, S. 434–435, sowie Abb. S. 441.
2 Zur Genese und Gestalt des Inventaire Napoléon, Lucie Chamson Mazauric, L’inventaire du Musée Napoléon aux archives du
Louvre, in: Archives de l’ art français, 1950–1957, S. 335–339; Hamiaux/Martinez 2001 (Anm. 1), S. 431–460; Einleitung
in: Jean-Luc Martinez, Les Antiques du Musée Napoléon, Édition illustrée et commentée des volumes V et VI de l’Inventaire du
Louvre de 1810, Paris 2004; Tatiana Auclerc, Notiz „Inventaire Napoléon“, in: Dominique-Vivant Denon. L’Oeil de Napoléon,
hg. von Marie-Anne Dupuy/Pierre Rosenberg, Ausst.-Kat. Paris Musée du Louvre, Paris 1999, Kat.-Nr. 130.
3 Zur Statistik in Frankreich, vgl. Marie-Noelle Bourguet, Déchiffrer la France. La statistique départementale à l’époque
napoléonienne, Editions des archives contemporaines, Ordres sociaux, Paris 1989.
4 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2011, S. 57.
5 Paris, AMN, 1 DD 16–23 und 1 DD 33–44, 17 Bände, siehe auch: Auclerc 1999 (Anm. 2), Kat.-Nr. 130 zum Inventaire
Napoléon.
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Europäische Museumskultur um 1800, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Untertitel
- Europäische Museumskultur um 1800
- Band
- 2
- Autor
- Gudrun Swoboda
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 264
- Kategorie
- Kunst und Kultur