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DEUTSCHLANDS KONFRONTATIVER UMGANG MIT DEM KOPFTUCH DER LEHRERIN
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Der EGMR hat in den genannten Entscheidungen zur Kopftuchproblematik in
der Schweiz und der Türkei ausdrücklich einen weiten Spielraum (›margin of
appreciation‹) zur Beurteilung der Notwendigkeit restriktiver Verbote im öf-
fentlichen Bereich eingeräumt (zur Schweiz siehe auch Wyttenbach in diesem
Band). Im Fall der zum Islam konvertierten Grundschullehrerin Lucia Dahlab
im Kanton Genf wurde der Entscheidung vom 15.02.2001 zu Grunde gelegt,
dass laut Verfassung und Schulgesetz im Kanton Genf säkulare Grundsätze zu
gelten hätten und daher strikte Neutralität gegenüber den Schülerinnen und
Schülern zu wahren sei.40 Die Einschränkung der Religionsausübung werde
legitimiert durch ein Gesetz, wie es Art. 9 Abs. 2 EMRK fordert. Die mit dem
Verbot verfolgten Zwecke seien legitim und »in einer demokratischen Ge-
sellschaft notwendig«, wie es der Art. 9 Abs. 2 EMRK verlangt; daher sei die
so lautende Einschätzung der staatlichen Behörden nicht zu beanstanden.
Im Fall ›Leyla Şahin v. Turkey‹41 stellte sich der Großen Kammer des
Straßburger Gerichtshofs die Frage, ob Studentinnen und Schülerinnen das
Kopftuchtragen verboten werden könne. Şahin wollte in einer staatlichen
Istanbuler Universität Medizin studieren, wurde jedoch zu Lehrveranstaltun-
gen nicht zugelassen, da sie ein Kopftuch trug. Sie wich schließlich nach
Wien aus, um dort Medizin zu studieren. Das Verbot und die Sanktion beruh-
ten auf einem Erlass des Vizekanzlers der Universität von 1998, in dem Bärte
für Männer und islamische Kopftücher für Frauen untersagt wurden. Die Gro-
ße Kammer des EGMR entschied am 10.11.2005, dass keine Verletzung der
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9), des Rechts auf Privat-
und Familienleben (Art. 8), der Meinungsfreiheit (Art. 10) und des Dis-
kriminierungsverbots im Hinblick auf das Geschlecht (Art. 14) festzustellen
sei. Das Recht auf Bildung (Art. 2, Protokoll Nr. 1) werde zwar empfindlich
eingeschränkt, jedoch seien in der Universität praktikable Lösungen für die
Studentinnen angeboten worden (gemeint sind Perücken).
Bemerkenswert ist die Abweichende Meinung, die die belgische Richterin
Françoise Tulkens formulierte. Sie stellte heraus, dass es unter den europäi-
schen Mitgliedstaaten des Europarats nur sehr wenige laizistische Regime ge-
be und die Türkei das einzige Land sei, welches Studentinnen, also erwach-
senen Personen, das freiwillige Tragen von Kopftüchern untersage. Insofern
sei es keineswegs üblich und selbstverständlich in Europa, dass ein Staat das
Tragen religiöser Kleidung zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Demo-
kratie verbiete. Ein derartiger Konsens existiere unter den Mitgliedern des
Europarats und Unterzeichnern der EMRK nicht, im Gegenteil. Zudem hätten
die Verbotsgründe und Kausalitäten im Einzelnen dargelegt und vom Gericht
– auch anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – überprüft werden
40 EGMR v. 15.02.2001, Lucia Dahlab v. Switzerland, Antrag Nr. 42393/98.
41 EGMR v. 10.11.2005, Leyla Şahin v. Turkey, Antrag Nr. 44774/98.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik