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ERNST GOTTFRIED MAHRENHOLZ
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rechtsvergleichend Weber 2004: 53). Diese Tatsache hat unmittelbare Wir-
kungen auf die Auslegung des Gesetzesrechts unter dem Gesichtspunkt des
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Paradigmatisch hierfür ist die ›Schächtentscheidung‹
des BVerfG.24 Wenn das BVerfG mit dem viel berufenen und auch verfas-
sungsgerichtlich verwendeten Begriff der »Heimstatt« (S. 299) nicht nur die
Heimstatt für alle Staatsbürger meint (also auch der Lehramtsbewerberin),
sondern eine Heimstatt für alle Einwohner, die hier unter dem Schirm des GG
ihre persönlichen, beruflichen und sozialen Wurzeln haben und von einer
Daueraufenthaltsberechtigung nach dem Ausländergesetz (AusländerG) be-
schützt sind, dann leistet der Begriff der ›Heimstatt‹ einen Beitrag zur
Auslegung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, nicht zuletzt in der Widerspiegelung
des Art. 1 Abs. 1 GG (zum ganzen und differenzierend siehe Weber 2004: 54
und Heinig/Morlok 2003: 778).
g) Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Begriff der ›Neutralität‹
der schwierigste Begriff des Religionsverfassungsrechts ist. Das meisterhaft
geschriebene ›badische Schulurteil‹ könnte darüber hinwegtäuschen; aber der
Neutralitätsbegriff des ›Kopftuchurteils‹ macht es deutlich. In der Kritik von
Morlok/Krüper (siehe oben) wird – jenseits der Themen von religiöser Viel-
falt und gesellschaftlichem Wandel – dargelegt, wie der Begriff der
›Neutralität‹ für das Kopftuchproblem fruchtbar zu machen wäre:
»Ein angemessenes Neutralitätsverständnis muss den Besonderheiten der Schule als
Sonderform staatlichen Handelns Rechnung tragen. Schule ist auch im neutralen Staat
offen für die religiösen Bekenntnisse von Schülern und Lehrern, die sich verfassungs-
und beamtenrechtlich vorstrukturiert in einer Weise begegnen, dass den Schülern das
Kennenlernen anderer Glaubensinhalte und das Üben von Toleranz ohne Indoktri-
nation auch am ›lebenden Beispiel‹ möglich wird. Die Lehrerin tritt in der Schule als
neutrale Amtsperson einerseits, als natürliche Person andererseits auf. Während die
Amtsperson zur Neutralität verpflichtet ist, soll die Privatperson ihre Religion offen
bekennen können. Eine Versöhnung dieser widerstreitenden Rechtspositionen lässt
sich letztlich nur dadurch erreichen, dass man sich nicht länger der Erkenntnis
verschließt, dass diese Sphären sich in der Schule überlappen: Nicht nur in Person
unterrichtet die Lehrerin, sondern auch als Person« (Morlok/Krüper 2003: 1022).
Neutralitätshandeln des Staates hat bezogen auf das Schulgeschehen einen
eigenen verfassungsrechtlichen Ort. Es ist der des Art. 7 Abs. 1 GG, der –
anders als der staatskirchenrechtliche Neutralitätsbegriff – die Neutralitäts-
aufgabe im Verfassungstext selbst zum Ausdruck bringt. Er besteht nicht in
24 BVerfG v. 15.01.2002, BVerfGE 104, 337, 353 ff (§ 4a Abs. 2 Nr. 2 Tierschutz-
gesetz i.V.m. Art. 20a GG in Konfrontation zu Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1
und 2 GG).
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Titel
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Untertitel
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Autoren
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 526
- Schlagwörter
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Kategorie
- Recht und Politik