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Miklosich, Franz Xaver Ritter von
Slovensko berilo (1858),
SŠM
M. hatte als Philologe mit seiner Vergleichenden Gram-
matik der slavischen Sprachen die Individualität der
Sprachen aller slawischen Völker, sowohl die der staats-
tragenden als auch die der sog. ahistorischen, vom Staat
nicht als selbstständige Nationen anerkannten Völker,
außer Streit gestellt. Dies erzielte er dadurch, dass
er Sprachen positivistisch aufgrund von konkretem
Sprachmaterial (aus Literatur und durch Informanten
gesammelter mündlicher Überlieferung) beschrieb.
Weiters begann er ebenso unvoreingenommen, die
Interferenzen und gegenseitigen Einflüsse und Vermi-
schungen der Sprachen auf dem Balkan zu untersuchen,
so dass er einem puristischen Sprachnationalismus wis-
senschaftlich den Wind aus den Segeln nahm.
Außerdem befasste er sich wissenschaftlich mit den
Sprachen und Kulturen auch solcher Völker, die in der
Wissenschaft nicht in den Genuss gekommen waren,
zu einer anerkannten Gruppe zu gehören, da sie sozial,
politisch und wirtschaftlich von den offiziellen Macht- strukturen marginalisiert worden waren, so z. B. die
Sprache der Rusinen (Ruthenen, Ukrainer in Galizien,
Aromunen/Walachen, Roma und Sinti, damals noch
»Zigeuner« genannt).
M. hatte nicht nur das Ukrainische (damals nannte
man es Kleinrussisch) als selbstständige Sprache in
seine Vergleichende Grammatik der slavischen Sprachen
aufgenommen, sondern er war bis zu seinem Tod auch
eng mit den ukrainischen (ruthenischen) Intellektuel-
len, die z. T. in Wien seine Studenten gewesen waren,
verbunden geblieben und hatte ihre Bestrebungen um
die Anerkennung der ukrainischen Sprache stets un-
terstützt. Die Ukrainer waren ihm dafür über seinen
Tod hinaus dankbar geblieben. So erwirkte die ukrai-
nische Gemeinde in Wien, dass seine Einsegnung bei
den Begräbnisfeierlichkeiten nach ukrainisch-ortho-
doxem Ritus erfolgte ; aber auch die Grammatik der
ruthenischen (ukrainischen) Sprache von Stephan von
Smal-Stockyj und Theodor Gartner, die erst 1913
erscheinen konnte, die er aber zu Lebzeiten stets unter-
stützt hatte, ist »dem Andenken von Franz Miklosich
gewidmet«.
Auch den Roma und Sinti widmete M. dieselbe
wissenschaftliche Sorgfalt und Methode wie den Spra-
chen anerkannter oder staatstragender Völker. Neben
den Studien zur Grammatik untersuchte er auch ihre
Migrationen und die mündlich überlieferten Sprach-
kunstwerke und brachte so soziolinguistische und
anthropologische Ansätze ein, die dem heutigen in-
terdisziplinären Wissenschaftsmodell entsprechen. M.
hatte in den Jahren 1872–1881 17 Publikationen über
die »Zigeuner« (Roma und Sinti) Europas, ihre Wan-
derungen und ihre mündlich überlieferte Sprachkunst,
vor allem aber über ihre Sprache aus linguistischer
Sicht mit soziolinguistischen Aspekten veröffentlicht.
Er versuchte möglichst viel Material zu sammeln und
hatte sich dazu ein Netz von Informanten aufgebaut.
So kam er zu authentischem Material zur Sprache, zur
Sprachkunst sowie zu den Migrationen der Roma und
Sinti im Balkanraum. Dabei fällt besonders auf, dass
die sprachlichen Interferenzen der Sprache der Roma/
Sinti mit den Sprachen des jeweiligen sprachlich mehr-
heitlichen Umfeldes (Rumänisch, Ungarisch, Serbisch)
für das Verständnis der sprachlichen und kulturellen
Interferenzen relevant sind.
Eine weitere solche marginalisierte Sprach- und
Volksgruppe, die M. auf dieselbe Weise in seinen wis-
senschaftlichen Interessenkreis aufnahm, war die der
Aromunen/Walachen (auch unter der Bezeichnung
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Band 2 : J – Pl
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- Titel
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1942
- Band
- 2 : J – Pl
- Autoren
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 502
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur