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Murko, Matija
tung der Reformation und der → Gegenreformation
bei den Südslawen beurteilt. Sein ständiges Suchen
nach dem geistigen Standort – sein für ihn typisches
wissenschaftliches Credo – reflektiert seine Arbeit Die
Bedeutung der Reformation und Gegenreformation für das
geistige Leben der Südslaven (1925–1927). M. stellte die
slowenische Literatur in einen breiteren, auch kultur-
historischen Kontext, so auch die einzelnen sloweni-
schen Autoren und ihre Probleme. Am meisten Platz
als Einzelpersönlichkeit räumte er → Prešeren ein.
M.s Einfluss auf die Umgestaltung der slowenischen
Literaturgeschichte zu einer Wissenschaft war enorm.
Über biografische Porträts befasste sich M. mit der
Erforschung der Entwicklung der Slawistik, schrieb
über ihre bedeutenden Vertreter (Jan Kollár, Jernej
→ Kopitar, Vuk Karadžić, Vatroslav Jagić, Vatros-
lav → Oblak, seine Miklosich-Biografie Miklosich’s
Jugend- und Lehrjahre 1898 ist in ihrer Art bis heute
nicht übertroffen worden).
Schon früh befasste er sich mit Volkskunde (→ Eth-
nologie) und erstellte ein Programm für ihre systema-
tische Entwicklung in den slowenischen Ländern. Zu
Beginn des 20. Jh.s führte er methodisch die Verbindung
philologischer Aspekte mit der materiellen Volkskultur
ein. Nach dem Tod Karel → Štrekeljs leitete er den
slowenischen Teil der großen Sammelaktion für Das
Volkslied in Österreich. Als Ethnograf verfeinerte M. die
Methodik der wissenschaftlichen Arbeit, vor allem durch
das Studium der geistigen und materiellen Kultur vor Ort
(→
Brauch, →
Volkskunst, →
Volkslied). Zwischen 1909
und 1932 übernahm M. mehrere Reisen in die südslawi-
schen Länder, um vor Ort die serbische und kroatische
Volksepik zu erforschen. Seine Niederschriften, Fotos
und Tonaufnahmen dokumentieren die Entstehung und
den Einfluss der Volkslieder in ihrem Lebensumfeld. Er
veröffentlichte laufend einzelne Ergebnisse, die er jedoch
erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer erschöpfen-
den Monografie zusammenfasste. M. wurde neben Vuk
Karadžić zum bedeutendsten Sammler und Kenner
der serbischen und kroatischen Volksepik.
Er prägte entscheidend die Entwicklung der slo-
wenischen Ethnologie. Im Letopis Matice Slovenske
[Jahrbuch der Slowenischen Gesellschaft für Wis-
senschaft und Kultur] für das Jahr 1896 erschien sein
Bericht über die volkskundliche Ausstellung in Prag
1895 ; der Abschnitt Nauki za Slovence [Lehren für die
Slowenen] kommt einem ethnologischen Programm
auf Grundlage von Philologie (Studium des Volks-
geistes) und ethnologischer Theorie (Evolutionismus, Diffusionismus) gleich. Die Ethnologie definiert M.
als Wissenschaft vom Leben des Volkes, dazu sollten
Forschungen zur materiellen, gesellschaftlichen und
geistigen Kultur eingesetzt und institutionalisiert (wis-
senschaftliche Gesellschaft, Museum) sowie die Sam-
meltätigkeit gefördert werden. Die Kultur eines Volkes
war für M. nicht etwas Einzelnes, Altes, Ursprüngliches,
sondern ein kulturhistorischer Prozess mit nationalen
Eigenheiten und einer modernen Kultur (Zivilisation).
Die Kenntnis der Volkskultur war für ihn ein wichtiger
Teil der Kenntnis einer Nation und ihres nationalen
Selbstbewusstseins. Dass er interkulturell ausgerichtet
war, zeigt sich auch an seiner Behandlung der Bautradi-
tion (1905, 1906), in der er das slowenische Gebiet als
einen Schnittpunkt der Kulturen der mittelländischen,
germanischen und balkanischen Kultursphären (→ In-
kulturation, → Volksarchitektur) auffasste. M. verband
das Studium der »nationalen Eigenheiten« mit sprach-
und literaturwissenschaftlichen Aspekten : ersterer un-
terstützte das Studium der materiellen Kultur (vgl. die
Abhandlungen in Wörter und Sachen 1910, 1913, 1929),
letzterer das Studium der Volksdichtung (1929, 1931,
1951). Die Bewusstwerdung der Volkskunde als auto-
nome Disziplin setzte sich aus der Thematik und der
Forschungsmethode zusammen : M. erkannte, dass man
die Volkskultur nur über das lebendige Leben kennen-
lernen kann, und hat mit seiner eigenen vorbildlichen
Feldforschung diese programmatisch eingeführt. Da-
mit war die philologische Behandlung der Texte einer
Kultur nicht mehr exklusiv, es blieb aber die positivis-
tisch-komparative und kulturhistorische Methodologie.
Am Ende des Ersten Weltkrieges beteiligte er sich an
der kulturpolitischen Problematik der jugoslawischen
Frage. Da er aber zum Neoillyrismus neigte, entfernte
er sich von der mehrheitlichen Einstellung der slowe-
nischen Öffentlichkeit. In späteren Jahren nahm M. am
slowenischen kulturellen Leben nicht mehr direkt teil,
wesentlich tiefere und dauerhafte Spuren hinterließ er
bei den Tschechen (er hatte aber seine Kinder in ih-
rer slowenischen → Identität bestärkt, so dass alle drei
nach 1920 nach → Jugoslawien »heimkehrten«). M. ist
ein vorbildlicher Beweis dafür, dass man das Fach un-
abhängig vom Ort der Tätigkeit entwickeln, trotzdem
aber auch in der Heimat als Wissenschafter europäi-
schen Ranges anerkannt und geschätzt werden kann. Im
Verlag der → Slovenska matica in Ljubljana erschien mit
Spomini [Erinnerungen] (1951) die Übersetzung seiner
in tschechischer Sprache erschienen Paměti [Erinne-
rungen] (1949). M. organisierte im Jahr 1883 die große
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Band 2 : J – Pl
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1942
- Band
- 2 : J – Pl
- Autoren
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 502
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur