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Ungarn der Ruf nach Reformen immer lauter erhoben wurde. Gerade die Ängstlichkeit,
mit der mau die nothwendigsten Umgestaltungen der Verfassung immer wieder hinausschob,
obgleich zuletzt alle Parteien sich in der Ansicht von der UnHaltbarkeit der bestehenden
Zustände begegneten, verschärfte den Gegensatz zwischen den historischen Überlieferungen
des ungarischen Staatslebens nnd den unabweisbaren Anforderungen der Gegenwart in
einem Grade, der zuletzt den jähen nnd völligen Umsturz der Verfassung befürchten ließ.
Auch in den alten Erblanden ließ sich namentlich seit dem Tode Kaisers Franz I.
ein Umschwung des öffentlichen Lebens nicht verkennen. Die Zeiten waren vorüber, iu
denen Gentz von einer „geistigen Auszehrung" sprechen konnte. Hatte man bisher »ach
langwierigen Kriegen die Rnhe in vollen Zügen genossen, so sehnte man sich nnn anch
nach geistiger Nahrung. Selbst in dem „Capna der Geister" war dies der Fall, wie dies
nnter anderem die Gründung des juridisch-politischen Lesevereines uud die des nieder-
österreichischen Gewerbevereines beweisen. Verwundert horchte das Ausland aus, als aus
dem sonst so stillen Österreich jene ungewohnten Lieder ertönten, in denen ein Wiener
Poet auf seinen Spaziergängen dem tiefen Kummer Ausdruck gab, der ihm, gleich so vielen
anderen patriotisch denkenden Männern, das Herz bedrückte. Bald entstand auch eine
eigene österreichische politische Literatur, die, außerhalb Österreichs gedruckt, doch haupt-
sächlich von Österreichern geschrieben war nnd hauptsächlich in Österreich gelesen wurde,
so das berühmte anonyme Buch: Österreich uud dessen Zukunft, dessen Verfasser Freiherr
von Andriau war, nnd die von I. Knranda in Leipzig gegründeten „Grenzboten". Während
die Regierung bei dem deutschen Bunde das ganze Gewicht ihres Einflusses in die Wag-
schale legte, nm den Liberalismus in den kleineren Staaten zn unterdrücken, war sie durch
alle Maßregeln einer argusäugigen polizeilichen Überwachung nnd Absperrung nicht im
Stande, das Eindringen desselben in den eigenen deutschen Erblanden zu verhindern, nnd
zugleich zeigten sich auch in den Ständeversaminlungen, deren Wirksamkeit vorlängst auf
das nichtige Formelwesen der sogenannten Postnlaten-Landtage herabgesunken war, die
ersten Regungen einer wiedererwachenden Theilnahme an den Angelegenheiten des Staates
uud des Gemeinwesens. Das Schlimmste aber, was unter solchen Umständen geschehen
konnte, war, daß die Regierung allmälig den Glanben an sich selbst nnd an die Unfehlbarkeit
ihres Systems verlor, ohne in sich jene Kraft zu finden, um der aufdämmernden Selbst-
erkenntniß gemäß zu handeln. Es blieb Alles beim Alten. Man verkannte nicht die Zeichen
der Zeit, aber man fühlte sich zu schwach, um unter diesem Zeichen zu siegen.
Die Regierten, so lange uud so ängstlich abgeschlossen von dem frischen Luft-
ströme des öffentlichen Lebens, befanden sich in dem Zustande politischer Anämie, die
dem geschwächten Staatskörper bei dem Ausbruche innerer oder äußerer Stürme schwere
Erkrankung prognostieirte. Dem ans langjährigem Geistesschlummer erwachten Österreich
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Übersichtsband, 1. Abteilung: Geschichtlicher Teil, Band 3
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Übersichtsband, 1. Abteilung: Geschichtlicher Teil
- Band
- 3
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 15.64 x 22.39 cm
- Seiten
- 278
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch