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fester Schablone verfaßter Ehevertrag verlesen und dies juridisch werthlose Document der
juugeu Frau übergeben. Hierauf zerbricht der Bräutigam durch einen kräftigen Fußtritt einen
kleinen Glaskelch, dessen Scherben abermals an die Hinfälligkeit menschlichen Glückes mahnen
sollen, dann nippen die beiden jungen Gatten vom gesegneten Wein und die Ceremonie
ist zu Ende. Das Paar, welches bis jetzt gefastet, zieht sich zu einem kurzen Imbiß zurück,
während die Gäste bewirthet werden. Abends werden den Neuvermählten Geschenke über-
reicht, dann findet ein Festessen statt, bei dem ein Schalksnarr — Marschall! — die Gäste
durch gereimte und ungereimte Zoten und pikante Spässe im jüdischen Jargon unterhält.
Am Tanze nehmen gewöhnlich blos Frauen und Mädchen theil und wenn selbst Männer
mittanzen, so geschieht es ohne Berührung der Tänzerin, die ihr Partner mittels eines
Tuches führt, von welchem er den einen und sie den andern Zipfel hält. Die Bewegungen
sind decent, aber einförmig und gleichmäßig, wie die eines Perpendikels, dabei lärmt jedoch
die Musik mit Pauke und Trompete, als sollten die Tanzenden die Erde zerstampfen.
Weniger ceremoniös hingegen wird die Lösung einer Ehe vollzogen, zu welcher der
Mann allein berechtigt ist. Der nach einem feststehenden, unabänderlichen Texte geschriebene
Scheidebrief kann vom Gatten persönlich oder auch durch einen Boten im Beisein zweier
jüdischer Zeugen übergeben werden. Mit dem Momente der Übergabe ist die Ehe gelöst;
der Mann kann sofort, die Frau nach drei Monaten wieder heiraten. Weigert sich die
Gattin den Scheidebrief anzunehmen, so kann seine Beibringung auch durch List geschehen.
In einem Briefe, einem Pakete, in der Tasche eines Kleides liegt das verhängnißvolle
Document, sie greift arglos danach, die bestellten Zeugen rufen: „Du bist geschieden!" Und
es ist vollbracht! So war's wohl noch in jenen grauen Zeiten, als die Juden im eigenen
Reiche das Leben der Orientalen lebten, die Fran nicht die Gefährtin, sondern fast die
Leibeigene des Mannes war, deren er sich, wie Abraham der Hagar, beliebig entledigen
konnte. Freilich gilt diese Ceremonie nicht vor dem staatlichen Rechte, aber die Staats-
gesetze leuchten nicht hinein in die untere Schichte des galizischen Judenthums, wo die
Überlieferungen und Anschauungen der Vorzeit noch mächtig herrschen, nach denen noch
immer im Dämmer der Judengasse gelebt, geheiratet, geschieden und begraben wird.
Da der jnnge Mann keinen Erwerb erlernt, keine Studien als die des Talmuds
gemacht und in so frühem Stadium des Lebens noch wenig für den schweren Kampf nms
Dasein vorbereitet ist, so wird im Vorhinein von den beiderseitigen Eltern vereinbart,
wie lange das junge Paar im Hause der einen, und wie lange im Hause der anderen
beköstigt werden soll. Gewöhnlich bleiben die Neuvermählten ein oder zwei Jahre in
voller Verpflegung bei den Eltern der Frau, dann ebensolange bei den Eltern des
Mannes. Schließlich ist der Aufwand an Wohnung, Einrichtung nnd Kost nicht erheblich.
In einen Winkel der Stube werden zwei Betten, zur Noth ein Bett nnd ein hölzernes Sofa,
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Band 19
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Galizien
- Band
- 19
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1898
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.48 x 22.34 cm
- Seiten
- 920
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch