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Des Abends komm’ ich zurück zu Tische, es waren noch wenige in der
Gaststube; die wĂĽrfelten auf einer Ecke, hatten das Tischtuch
zurĂĽckgeschlagen. Da kommt der ehrliche Adelin hinein, legt seinen Hut
nieder, indem er mich ansieht, tritt zu mir und sagt leise:“du hast Verdruß
gehabt?”—“Ich?” sagt’ ich.—“Der Graf hat dich aus der Gesellschaft
gewiesen.”—“Hol’ sie der Teufel!” sagt’ ich, “mir war’s lieb, daß ich in die
freie Luft kam.”—“Gut,” sagt’ er, “daß du’s auf die leichte Achsel nimmst.
Nur verdrießt mich’s, es ist schon überall herum.”—Da fing mich das Ding
erst an zu wurmen. Alle, die zu Tisch kamen und mich ansahen, dachte ich,
die sehen dich darum an! Das gab böses Blut.
Und da man nun heute gar, wo ich hintrete, mich bedauert, da ich höre, daß
meine Neider nun triumphieren und sagen: da sähe man’s, wo es mit den
Übermütigen hinausginge, die sich ihres bißchen Kopfs überhöben und
glaubten, sich darum über alle Verhältnisse hinaussetzen zu dürfen, und was
des Hundegeschwätzes mehr ist—da möchte man sich ein Messer ins Herz
bohren; denn man rede von Selbständigkeit was man will, den will ich sehen,
der dulden kann, daĂź Schurken ĂĽber ihn reden, wenn sie einen Vorteil ĂĽber
ihn haben; wenn ihr Geschwätze leer ist, ach da kann man sie leicht lassen.
Am 16. März
Es hetzt mich alles. Heut’ treff’ ich die Fräulein B… in der Allee, ich
konnte mich nicht enthalten, sie anzureden und ihr, sobald wir etwas entfernt
von der Gesellschaft waren, meine Empfindlichkeit ĂĽber ihr neuliches
Betragen zu zeigen.—“O Werther,” sagte sie mit einem innigen Tone,
“konnten Sie meine Verwirrung so auslegen, da Sie mein Herz kennen? Was
ich gelitten habe um Ihretwillen, von dem Augenblicke an, da ich in den Saal
trat! Ich sah alles voraus, hundertmal saß mir’s auf der Zunge, es Ihnen zu
sagen. Ich wußte, daß die von S… und T… mit ihren Männern eher
aufbrechen wĂĽrden, als in Ihrer Gesellschaft zu bleiben; ich wuĂźte, daĂź der
Graf es mit ihnen nicht verderben darf,—und jetzt der Lärm!”—“wie,
Fräulein?” sagt’ ich und verbarg meinen Schrecken; denn alles, was Adelin
mir ehegestern gesagt hatte, lief mir wie siedend Wasser durch die Adern in
diesem Augenblicke.—“Was hat mich es schon gekostet!” sagte das süße
Geschöpf, indem ihr die Tränen in den Augen standen. —Ich war nicht Herr
mehr von mir selbst, war im Begriffe, mich ihr zu FĂĽĂźen zu werfen.
—“Erklären Sie sich!” rief ich.—Die Tränen liefen ihr die Wangen herunter.
Ich war auĂźer mir. Sie trocknete sie ab, ohne sie verbergen zu wollen.
—“Meine Tante kennen Sie,” fing sie an, “sie war gegenwärtig und hat—o,
mit was fĂĽr Augen hat sie das angesehen! Werther, ich habe gestern nacht
ausgestanden und heute frĂĽh eine Predigt ĂĽber meinen Umgang mit Ihnen,
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik