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Meyer-Drawe 2018: 38), nämlich neben der in aktuellen Bildungsdiskursen
vorrangigen Selbsttätigkeit auch die Empfänglichkeit als zweites Prinzip.
Keine der beiden Haltungen steht für sich, sie sind in Wechselwirkungen ver-
flochten: die Selbsttätigkeit als Aneignung und Begreifen von Welt, die Emp-
fänglichkeit als ungesicherte Offenheit für die Welt und die Anderen. Darin
liegt auch das Potenzial der Überraschung, doch mehr zu können, „als wir ah-
nen“, und sich doch „nicht vollständig im Griff haben“ (ebd.: 6) zu können.
Diese Ambivalenz ist zum einen verstörend, zum anderen dem Lernprozess
konstitutiv mitgegeben, da das Vertraute preisgegeben werden muss zugunsten
der Offenheit für das Neue, damit dieses überhaupt wahr-, auf- und angenom-
men werden kann.
„Erfahrungen der Negativität“, in denen „das bis dahin Gesicherte“ (Pe-
terlini 2016b: 27) bricht, werden in aktuellen Lerndiskursen vielfach vernach-
lässigt. Besonders diese Erfahrungen „fordern zu einem Verlernen und Umler-
nen heraus“ (ebd.). Es erfordert ein Wagnis ins Nichts, über einen Abgrund des
Nicht-Mehr-Geltens des Vertrauten und des Noch-Nicht-Verfügbaren des
Neuen hinweg. Erst dadurch kann das Neue – im Sinne des Umlernens – in die
Welt des/der Lernenden kommen, da es ansonsten an den vermeintlich gesi-
cherten und abzusichernden Wissensbeständen und Erfahrungshintergründen
abgewiesen würde. Negativität ist dabei nicht per se als negative Erfahrung zu
verstehen, sondern als Negation des Vertrauten: Das Vertraute kann auch in
erlernten Erfahrungen bestehen, dass jemand nichts kann, nichts wert ist, nicht
liebenswert ist, nicht rechnen oder nicht richtig gut Deutsch kann. Die Nega-
tion bestünde in diesem Fall darin, dass diese negativen Vorerfahrungen durch
neue positive Erfahrungen durchkreuzt (negiert) werden, so dass sich das Sub-
jekt etwas zuzutrauen lernt, das es sich bisher selbst nie zugetraut hat und/oder
das ihm/ihr nie zugetraut wurde. Hinter dem Abgrund des Nicht-Mehr und
Noch-Nicht liegt damit auch die Möglichkeit der Überwindung von Ohnmacht
im Lernprozess und der Ermächtigung durch den Lernvollzug: das Ich-Kann.
Rödel (2019) beschreibt in Anlehnung an Koller und Buck negierende Mo-
mente als zentral in transformativen (bzw. bei Koller transformatorischen) Bil-
dungsprozessen, und zwar im Sinne einer doppelten Negativität. „Doppelt ist
diese Negativität – wiederum in Anlehnung an Buck – vor dem Hintergrund
einer hermeneutischen Erfahrungstheorie, in der nicht nur ein Gegenstand oder
ein Wissensinhalt negiert wird, sondern damit gleichsam der Horizont, vor
dem dieser Gegenstand bisher stand bzw. verstanden wurde, in Frage gestellt
wird.“ (Ebd.: 50) Das Scheitern, der Bruch, „die negative Erfahrung in Welt-
und Selbstverhältnissen“ (ebd.: 51) ist entscheidend für die Herausbildung von
etwas Neuem. Bildung wird dabei nicht im Sinne Humboldts als eine „harmo-
nische Ergänzung“ (Humboldt 1967: 22) verstanden, sondern als radikale In-
fragestellung bisheriger Welt- und Selbstverhältnisse“ in welcher „das Krisen-
hafte und Riskante an Bildungsprozessen betont wird“ (Koller 2012: 77).
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Buch Lernprozesse über die Lebensspanne - Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern"
Lernprozesse über die Lebensspanne
Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Titel
- Lernprozesse über die Lebensspanne
- Untertitel
- Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
- Autoren
- Monika Kastner
- Jasmin Donlic
- Barbara Hanfstingl
- Herausgeber
- Elisabeth Jaksche-Hoffman
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8474-1467-4
- Abmessungen
- 14.7 x 21.0 cm
- Seiten
- 190
- Kategorie
- Lehrbücher