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axel Bernd Kunze | staat – Identität – recht
entweder durchsetzungsschwach und brüchig oder liefe Gefahr, totalitär
zu werden. Denn eine Art ‚kosmopolitischer Leviathan‘ würde sowohl je-
den Wettbewerb zwischen den Staaten – auch um die beste politische Kon-
fliktlösung – ersticken als auch jede Möglichkeit zum Asyl rauben.
Benedikt XVI. hat hingegen mit seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate das
bereits bei Johannes XXIII. zu findende Modell einer politischen Weltauto-
rität zur Steuerung der Globalisierung ins Spiel gebracht, ohne allerdings
angeben zu können, wie diese ihre Entscheidungen auch durchsetzen soll
(vgl. Benedikt XVI. 2009, Abs. 67; erneut aufgegriffen in seiner Umwelt-
enzyklika Laudato siʼ von Franziskus 2018, Abs. 175). Am Ende bliebe die Ge-
fahr, dass doch nur ein Recht des Stärkeren gilt, ohne dass ein wirklicher
Gewinn an rechtlicher und demokratischer Teilhabe erzielt würde.
Denn wer immer mehr Entscheidungen in suprastaatliche Institutionen
auslagert, läuft Gefahr, technokratische Strukturen zu stärken und die
demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger zu schwächen.
Politische Entscheidungen würden sich in eine Grauzone verlagern, in
der zunehmend Regierungen und Expertenzirkel miteinander verhandel-
ten
– schon allein aufgrund einer fehlenden funktionsfähigen, nicht durch
Sprachbarrieren beeinträchtigten weltgesellschaftlichen Öffentlichkeit.
Das Sozialkompendium der katholischen Kirche formuliert es folgender-
maßen:
„Die politische Gemeinschaft findet in der Bezogenheit auf das Volk ihre
eigentliche Dimension: […] Das Volk ist keine amorphe Menge, eine trä-
ge Masse, die manipuliert und instrumentalisiert werden kann, sondern
eine Gesamtheit von Personen, von denen jede einzelne […] die Mög-
lichkeit hat, sich über die öffentliche Sache eine eigene Meinung zu bil-
den, und die Freiheit, ihr eigenes politisches Empfinden zum Ausdruck
zu bringen und es so zur Geltung zu bringen, wie es dem Gemeinwohl
entspricht“ (Nr. 385).
In der antitotalitären Tradition kirchlicher Soziallehre erscheint der Bezug
auf das Volk an dieser Stelle nicht als Quelle eines problematischen Natio-
nalismus, sondern als kritischer Topos gegen Versuche, die politische De-
batte der Öffentlichkeit zu entziehen.
Wer immer mehr Entscheidungen in suprastaatliche Institutionen
auslagert, läuft Gefahr, technokratische Strukturen zu stärken.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 194
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven