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Kurt remele | Christliche Kakistokratie
und bekannte sich zur Verbalinspiration der Heiligen Schrift. Ich erinne-
re mich mit Wohlwollen an Reverend Green, jenen unaufdringlichen und
unprätentiösen evangelikalen Pastor und Lehrer. Er hörte mir aufmerksam
zu, wenn ich ihm etwas über die katholische Kirche erzählte, und bot mir
seinen geistigen und geistlichen Beistand an, wenn ich besonders heftigen
Missionierungsattacken von Seiten des einen oder anderen mormonischen
Mitschülers ausgesetzt war.
Die Erinnerung an Reverend Green verdeutlicht mir, dass es empirisch
falsch und menschlich unfair wäre, die Evangelikalen ausnahmslos als
eine Ansammlung geistig minderbemittelter religiöser Fanatiker und
lauttönender, geldgieriger Tele-Evangelisten zu verstehen. Nicht wenige
der etwa achtzig Millionen amerikanischen Evangelikalen sind redliche,
freundliche, ehrliche, fromme, rechtschaffene und zudem kinderreiche
US-amerikanische Bürgerinnen und Bürger. Freilich stimmt auch, dass die
meisten von ihnen theologisch und politisch konservativ sind und nicht
wenige von ihnen provinziell dazu. Sie sind davon überzeugt, dass der Rest
der Vereinigten Staaten einen Vorort des Bible Belt darstellen sollte und der
Rest der Welt einen Vorort der Vereinigten Staaten.
Reverend Green verehrte Reverend Billy Graham (1918-2018), jenen be-
rühmten Baptistenpastor, der die Abschottung der Evangelikalen gegen-
über anderen christlichen Kirchen durchbrochen und sich sowohl inner-
halb der christlichen Ökumene als auch in der amerikanischen Gesellschaft
Ansehen und Anerkennung erworben hat: „Grahams Haltung [war immer]
ungewöhnlich optimistisch und überkonfessionell, sodass er als selbst-
loser Apologet des universellen christlichen Glaubens auftreten konnte.
Graham vermied es, potenzielle Gegner zu provozieren.“ (Larsen 2004,
82) Er wurde als „Pastor der Nation“ (Hautkapp 2018) bezeichnet und fun-
gierte als moralisches Gütesiegel für etablierte Machtverhältnisse. Graham
wirkte als geistlicher (ethischer, politischer) Berater, als – um es zeitgeis-
tig adäquater auszudrücken – Lebenscoach mehrerer amerikanischer Prä-
sidenten. Besonders eng war seine Beziehung zu Richard Nixon und zu den
Nicht wenige der amerikanischen Evangelikalen sind redliche, fromme,
rechtschaffene und zudem kinderreiche Bürgerinnen und Bürger.
Freilich sind die meisten von ihnen auch theologisch und politisch
konservativ und nicht wenige von ihnen provinziell dazu.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 194
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven