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Richard Sturn | Generationengerechtigkeit, Generationenvertrag und Entsolidarisierung
ihrem Alter von den Kindern erhalten zu werden. (Groß-)Familien sind der
primäre soziale Ort der sozial-kulturell-biologischen Reproduktion und
Institution von bedürfnisorientierter Ökonomie und solidargemeinschaft-
licher Einkommensteilung zwischen mehr und weniger Erwerbs- bzw. Ar-
beitsfähigen. Familien sind aber auch der primäre soziale Ort annähernd
individualisierter Generationenverträge, wie sie im einleitenden Zitat aus
King Lear zur Sprache kommen. Wie bei anderen Verträgen auch setzt die
Durchsetzung der in ihnen verbrieften Ansprüche freilich ein Gefüge sozi-
aler Institutionen und Machtbeziehungen voraus.
Es liegt auf der Hand, dass die zumindest seit der römischen Antike gefor-
derte Verknüpfung von Vertragsverhältnissen mit beidseitiger Freiwillig-
keit hier nur in einem sehr eingeschränkten Sinn gegeben ist. Dies soll-
te aber nicht in erster Linie im Sinne einer Entwertung der Überlegungen
Schreibers verstanden werden, sondern eher als Relativierung der indivi-
dualistischen Konnotationen, die mit dem Begriff Vertrag mitschwingen.
Der Begriff Generationenvertrag (und auch die damit implizierte Assoziati-
on kommutativer Gerechtigkeit) ist daher nur cum grano salis zu verstehen.
Während der Begriff Gesellschaftsvertrag (unter artikulationsfähigen In-
dividuen) als Denkfigur im Wege einer Als-ob-Konstruktion für bestimmte
Fragen der politischen Theorie interessante allgemeine Einsichten liefern
kann (obgleich er keine realistische Staatsbegründung liefert), ist die Rele-
vanz des Begriffs „Generationenvertrag“ auf ganz spezifische Interpreta-
tionsvarianten beschränkt – und droht außerhalb einer darauf basierenden
Hermeneutik zur irreführenden Suggestion zu werden.
In Großgesellschaften mit vergleichsweise hoher sozialer und geographi-
scher Mobilität kann die Kernfamilie das Aufgabenspektrum einer Soli-
dargemeinschaft nur mehr eingeschränkt wahrnehmen und bedarf des-
wegen der Einbettung in größere Solidargemeinschaften. Tatsächlich hat
sich die soziale Funktion der Familie im Entwicklungsprozess kapitalisti-
scher Marktwirtschaften verändert. Öffentliche Institutionen übernahmen
wesentliche Teile jener solidargemeinschaftlichen Funktionen und auch
der Bildungsfunktionen der Familie (vgl. Sturn 2011b). Andererseits werden
in der von selbst über alle Grenzen hinausdrängenden Marktgesellschaft
potentiell immer mehr Funktionen als marktvermittelte Dienstleistung
gehandelt, die am Markt zugekauft werden können, etwa Kinderbetreuung
und Pflege.
Gesellschaftsvertrag vs. Generationenvertrag
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven