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Jochen Ostheimer | Den eigenen Untergang erzÀhlen, um ihn zu verhindern
âThe alternative is to turn ourselves into fishâ
âWe keep thinking that the time will never come. The alternative is to turn
ourselves into fish and live under waterâ. So reagierte 2007 der stellvertre-
tende MinisterprÀsident von Tuvalu, Tavau Teii, auf die Aussicht, dass in
den kommenden fĂŒnfzig Jahren der pazifische Inselstaat im Meer versin-
ken könne.1 Nachdem zu Beginn dieses Jahrtausends immer klarer wurde,
dass im Zuge der ErderwÀrmung der Meeresspiegel steigt und zugleich die
Anzahl und Heftigkeit der StĂŒrme zunimmt (vgl. aktuell IPCC 2019), er-
kannten kleine Inselstaaten, dass sich ihre Lage bald radikal Àndern könn-
te: vom SĂŒdseeparadies zur untergegangenen Insel. Seitdem kĂ€mpfen sie
darum, dem Schicksal von Atlantis zu entgehen.
Ihre Anstrengungen sind vielseitig. Einige Einwohner wandern nach Neu-
seeland oder Australien aus und beantragen dort öffentlichkeitswirksam
Klimaasyl. Andere nutzen die politische BĂŒhne, um auf das drohende Ver-
hĂ€ngnis aufmerksam zu machen, und erzĂ€hlen den befĂŒrchteten eigenen
Untergang. Sie schildern im Modus des Futurum exactum das Versinken
der Insel und das Verschwinden der Menschen, ihrer Gemeinschaft, ihrer
Lebensform, ihrer Sprache, ihrer Weltanschauung, um eben dieses Ereig-
nis zu verhindern.
Der Klimawandel ist die bekannteste Facette in einer Reihe gravierender
globaler UmweltverÀnderungen, die sich im Begriff des AnthropozÀns zu-
sammenfassen lassen. GemÀà dieser zunÀchst geologisch gefassten Hypo-
these und inzwischen auch kulturgeschichtlich wirksamen Idee wird die
seit der letzten Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren bestehende erdgeschicht-
liche Epoche des HolozĂ€ns durch ein neues âZeitalter des Menschenâ ab-
gelöst, in dem die Menschheit einen wesentlichen Einfluss bei der Gestal-
tung der ErdoberflĂ€che und der groĂen Stoffströme wie des Wasser- oder
des Kohlendioxidkreislaufs ausĂŒbt.
Wie das Eingangsbeispiel zeigt, muss die AnthropozÀnidee erzÀhlt wer-
den, um Verbreitung, VerstÀndnis und Zustimmung zu finden. Denn Er-
zÀhlungen sind ein besonders gut geeignetes Mittel, um komplexe Sach-
verhalte fĂŒr unterschiedliche Adressatengruppen verstĂ€ndlich darzulegen,
die Dringlichkeit eines Anliegens deutlich zu machen und zum Handeln zu
motivieren. ErzĂ€hlungen ĂŒber das AnthropozĂ€n bilden ein Medium, mit
dem die moderne Gesellschaft ihre ReflexivitĂ€t bearbeitet, d. h. ĂŒber die
Im âZeitalter des Menschenâ
1 https://uk.reuters.com/article/
environment-tuvalu-dc/tuvalu-
about-to-disappear-into-the-
ocean- idUKSEO11194920070913
[22. Aug. 2019]. Inwiefern Inseln in-
folge des Anstiegs des Meeresspie-
gels tatsÀchlich versinken werden
oder ob sich lediglich ihre KĂŒsten-
linie Àndert, wird aktuell erforscht;
vgl. etwa Webb/Kench 2010; Kench/
Ford/Owen 2018. Auf alle FĂ€lle steigt
die Gefahr starker Sturmfluten.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven