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Jochen Ostheimer | Den eigenen Untergang erzählen, um ihn zu verhindern
umsausstellungen, die wie im Berliner Haus der Kulturen der Welt
„kulturelle Grundlagenforschung mit den Mitteln der Kunst und
der Wissenschaft“10 betreiben. Die fünf beschriebenen Zukunfts-
versionen haben eine soziale Funktion, sie sind Gegenstand und
mehr noch Impulsgeber für die gesellschaftliche Selbstverständi-
gung (vgl. Luhmann 1973), sie schaffen gesellschaftliche Erwar-
tungshorizonte (vgl. Koselleck 1979, 349–375). Zu diesem Zweck
genĂĽgt es nicht, Sachverhalte zu konstatieren, gar in mathema-
tisierbaren Formeln darzustellen. Sie mĂĽssen vielmehr zu einer
Erzählung verdichtet werden, um eine Diskussion anzustoßen.
Denn Erzählungen im weiteren Sinn geben als „kulturelle Modi der
Weltkonstruktion“ und „kognitive Werkzeuge der Sinn- und Iden-
titätsstiftung“ (Nünning 2013, 18; vgl. ebd. 41–46; Bruner 1997,
81–108) faktischen oder möglichen Ereignissen Kohärenz und Be-
deutung, eröffnen neue Denkräume und motivieren zum Handeln.
Szenarien: Die Modellierung des Klimawandels
Nachdem im vorherigen Abschnitt nachgezeichnet wurde, wie unter-
schiedlich in der gesellschaftlichen Kommunikation der Klimawandel ge-
dacht und auch durch narrative Mittel dargestellt wurde und wird, wird im
Folgenden der Blick auf eine spezifische Darstellungsform fokussiert: auf
wissenschaftliche Klimaszenarien. Auch hier kommt erzählerischen For-
men im weiteren Sinne eine wichtige Funktion zu.
Die fiktionale Qualität von Szenarien
Wissenschaftliche Aussagen über die Zukunft können zwei Formen an-
nehmen. Eine Gestalt wissenschaftlicher Thematisierung der Zukunft ist
die Prognose. Prognosen machen Vorhersagen, wie sich etwas mit einer
bestimmten Wahrscheinlichkeit entwickeln wird, etwa das Wetter in den
kommenden vier Tagen. Prognosen schreiben auf der Basis empirischer
Kenntnisse und wissenschaftlich fundierter Gesetzmäßigkeiten ein be-
kanntes Geschehen in die Zukunft fort.
Von Prognosen methodologisch zu unterscheiden sind Szenarien. Szenari-
en sind nach gegebenen Kriterien entwickelte hypothetische Zukunftsbil-
der oder Modellwelten, die konsistent und plausibel sein müssen, während
ihre Wahrscheinlichkeit offengelassen werden kann. In der Regel verfolgen
und Kalle Laar, bei dem man den
Vernagtferner anrufen und „dem
Gletscher beim Sterben lauschen“
kann (www.artcircolo.de/html/pro-
jects/2007-..._Glacier.html [18. Mai
2019]), The Anthropocene Project von
Edward Burtynsky, zunächst eine
Fotoserie ĂĽber die industrielle Ver-
änderung der Erdoberfläche durch
den Extraktivismus, die sich zu ei-
ner „multimedia exploration of the
complex and indelible human signa-
ture on the Earth“ auswuchs (www.
edwardburtynsky.com/projects/
the-anthropocene-project [18. Mai
2019]), sowie die Anthologie Lyrik im
Anthropozän von Bayer/Seel 2016.
10 Vgl. Renn/Scherer 2015; www.
hkw.de/de/programm/projek-
te/2014/anthropozaen/anthropoza-
en_2013_2014.php [18. Mai 2019];
vgl. auch die Sonderausstellung
„Willkommen im Anthropozän“ – Un-
sere Verantwortung fĂĽr die Zukunft der
Erde im Deutschen Museum in MĂĽn-
chen; Möllers/Schwägerl/Trischler
2015; http://www.deutsches-mu-
seum.de/ausstellungen/sonderaus-
stellungen/rueckblick/2015/anthro-
pozaen [18. Mai 2019].
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven