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Jochen Ostheimer | Den eigenen Untergang erzÀhlen, um ihn zu verhindern
Szenarien einen bestimmten Zweck, sie werden praxisorientiert entworfen,
sie sollen Zeit binden und rationales Handeln ermöglichen. Sie sind daher
inhaltlich begrenzt, sie behandeln nur ein bestimmtes Handlungsfeld oder
beachten nur ausgewÀhlte Parameter (vgl. etwa Kahn/Wiener 1967; Wilms
2006; Gabriel 2014).
Mit Blick auf den Klimawandel sind exakte Prognosen aus verschiedenen
GrĂŒnden nicht möglich. Eine Unsicherheit erwĂ€chst daraus, dass das Wis-
sen ĂŒber das Klimasystem mitsamt den positiven und negativen RĂŒck-
kopplungsmechanismen unvollstÀndig ist und die verschiedenen Klima-
modelle LĂŒcken aufweisen. Eine andere Art von Unsicherheit resultiert aus
der VariabilitÀt der gesellschaftlichen Einflussfaktoren wie Bevölkerungs-
wachstum, Wohlstandsentwicklung, VerÀnderungen im Lebensstil, tech-
nische Innovationen usw. Daher wird in der Klimaforschung vielfach mit
Szenarien gearbeitet.
Auch wenn Szenarien hypothetische Modellwelten entwerfen und Reali-
tÀtsnÀhe somit nicht das entscheidende QualitÀtskriterium ist, erfasst man
gerade nicht ihren spezifischen Charakter, wenn man sie als bloĂe Fiktion
abtut.
GemÀà dem triadischen Modell von Iser ist das gelÀufige Oppositions-
verhÀltnis zwischen dem Realen und dem Fiktiven durch ein Drittes, das
Moment des ImaginÀren, aufzubrechen. Fiktionale Texte, zu denen in ge-
wisser Weise auch Szenarien zu rechnen sind, wiederholen nicht einfach
die Wirklichkeit, d. h. die auĂertextuelle Welt, in dem Sinn, dass sie sie be-
zeichnen, sondern bringen âein ImaginĂ€res zur Geltung, das mit der im
Text wiederkehrenden RealitĂ€t zusammengeschlossen wirdâ (Iser 1991,
20; vgl. ebd. 18â51). Dadurch erhĂ€lt das ImaginĂ€re, das zunĂ€chst etwas Dif-
fuses ist, eine Bestimmtheit und damit eine Eigenschaft, die der RealitÀt
zukommt. Indem es so den Anschein des Realen gewinnt, vermag es in der
Welt wirksam zu werden. Diese FĂ€higkeit entfaltet der Vorgang des Fingie-
rens durch drei Akte:
Ì Jede Fiktion wĂ€hlt aus der Vielfalt an möglichen Umweltgegeben-
heiten bestimmte Aspekte aus. Durch die Selektion wird eine be-
stimmte Perspektive eingenommen und werden zugleich die jewei-
ligen Bezugsfelder des Texts markiert und ausdrĂŒcklich gemacht.
Szenarien entwerfen hypothetische Modellwelten,
sind aber keineswegs bloĂe Fiktion.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven