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Jochen Ostheimer | Den eigenen Untergang erzählen, um ihn zu verhindern
Boett
cher/Gabriel/Low 2016, 6–7). Bei quantitativen Szenarien werden
vorab die entscheidenden Faktoren in einer möglichst begrenzten Anzahl
festgelegt, um durch die Veränderung von Variablen quantitativ verschie-
dene Verläufe zu erzeugen. In der qualitativen Vorgehensweise richtet sich
der Blick eher auf menschliche Einstellungen, auf gesellschaftliche Ver-
haltensmuster und Wertvorstellungen mit ihren komplexen und z. T. auch
sprunghaften Auswirkungen, auf Details, Abstufungen und Unterschiede
in den Eigenschaften.12 In einer solchen Vorgehensweise kommen nicht
Computermodellierungen zum Einsatz, sondern Erzählungen im weiteren
Sinn, weil sich die relevanten Aspekte nicht in Statistiken, sondern nur in
dichten Beschreibungen fassen lassen.
Der SRES- wie der RCP-Ansatz haben gemeinsam, dass sie sich dem Ty-
pus explorativer Szenarien zuordnen lassen. Sie legen mögliche zukünf-
tige Verläufe vor, indem sie verschiedene Bedingungen und Ausgangsan-
nahmen variieren. Auf diese Weise zeigen sie Alternativen auf, arbeiten
entscheidende Weggabelungen heraus oder machen Chancen und Risiken
deutlich. Im Unterschied dazu beschreiben normative Szenarien eine ge-
wünschte Zukunft und skizzieren mögliche Wege dorthin. Sie regen zu
einer Diskussion über erstrebenswerte Ziele an und ermöglichen es, über
geeignete Strategien nachzudenken, Maßnahmen zu modellieren und ihre
Konsequenzen abzusehen und zu beurteilen.
Szenarienbildung und das Zeitregime der Moderne
Szenarien sind eine spezifisch moderne Kulturtechnik, die ein bestimm-
tes Verständnis von Zukunft voraussetzen. Ein solches entwickelte sich im
17./18. Jahrhundert mit dem Zeitregime der Moderne. Das moderne Zeit-
konzept schuf die historische Zeit als „stabilen Zeitraum von gesicherter
Existenz und unendlicher Ausdehnung, der von der Auffüllung mit be-
liebigen Ereignissen und Vorstellungen unabhängig“ (Assmann 2013, 47;
vgl. Koselleck 1979; Hölscher 1999) und stattdessen von der abstrakten,
gleichmäßig ablaufenden physikalischen Zeit bestimmt war. „Vom Kipp-
punkt der Gegenwart aus gesehen dehnten sich Vergangenheit und Zukunft
als unendliche Zeiträume aus, und es bestand die Zuversicht, in beiden
Richtungen menschliches Wissen wissenschaftlich abzusichern.“ (Ass-
Die relevanten Aspekte lassen sich nicht in Statistiken,
sondern nur in dichten Beschreibungen fassen.
12 Der Global environment outlook 3
des Umweltprogramms der Verein-
ten Nationen, der ebenfalls mit nar-
rativ angelegten Szenarien arbeitet,
nennt folgende Stärken: „Qualitative
scenarios can explore relationships
and trends for which few or no nu-
merical data are available, including
shocks and discontinuities. They
can more easily incorporate human
motivations, values and behaviour
and create images that capture the
imagination of those for whom they
are intended.“ (UNEP 2002, 321)
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven