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Şenol Yaĝdı | Von der Bildungsferne zum Bildungsaufstieg
bei sich jedoch diese Handlungsoption von der vorigen Passage unterschei-
det. Das Ziel bleibt es hier, den familiären Zusammenhalt zu bewahren.
Ebenso beurteilt Yasin sein Bestreben, verstärkt nach Gemeinsamkeiten zu
suchen, anstatt die bildungsbedingten Unterschiede hervorzuheben. Durch
den Bildungsaufstieg habe er die Reife erlangt, eine Entfremdung vom
Herkunftsmilieu zu verhindern:
„Ich versuche immer, so Gemeinsamkeiten mit meiner Familie zu finden.
Und versuche noch immer, nahe zu ihnen zu bleiben. […] Wenn ich mich
jetzt ganz fremd fühlen würde, weil meine Eltern nicht diese … weil es
nicht wichtig für sie ist, zu studieren oder etcetera, dann würde ich mich
vielleicht von ihnen distanzieren. Aber ich versuche immer, Gemeinsam-
keiten zu finden. Deshalb mache ich das persönlich nicht. […] Sie haben es
einfach nicht geschafft. Vielleicht haben sie schlechte Verhältnisse gehabt
und sind dadurch nicht in die Schule gegangen. Und deshalb versuche
ich, wie gesagt, Gemeinsamkeiten zu finden und nicht mich von meiner
Familie zu distanzieren. Im Bereich Gedanken und so weiter … Vielleicht
haben wir andere Gedanken, aber wie gesagt, das ist meine Familie und
diese Sachen muss man beiseitelassen und versuchen, Gemeinsamkeiten
zu finden. Und diese Reife sollte ich zeigen, weil ich denke, dass ich eine
halbwegs gebildete Person bin, und ich kann vielleicht an solche Sachen
denken, aber die nicht.“ (Yasin, Z. 427–439)
Yasin betont außerdem, dass es in der türkischen Kultur unüblich sei, sich
von der eigenen Familie zu distanzieren, und dass dieser auch für Erwach-
sene noch eine bedeutende Rolle zukomme, anders als bei vielen Österrei-
cherInnen (vgl. Yasin, Z. 439–446).
Es kann somit gezeigt werden, dass den herkunftsbedingten Identitäten
der befragten Studierenden kein statisches Wesen zuzuordnen ist, sondern
im Gegenteil, dass jene sich in einer Dynamik zwischen Herkunftsmilieu
und Zielgesellschaft entfalten und von den Studierenden selbst als bikul-
turell wahrgenommen werden.
Die intermittierende Distanz zum Elternhaus verdeutlicht einen Effekt des
Bildungsaufstiegs: Er kann einerseits als Faktor einer Verstärkung der Dif-
ferenz (Transformationsprozesse hinsichtlich der eigenen Identität und
damit verbundene Entfernung vom Herkunftsmilieu), andererseits als An-
passung an die Mehrheitsgesellschaft verstanden werden, sofern insbe-
sondere der soziale Aufstieg und das Erreichen von Wohlstand etc. unter
den gegebenen Bedingungen stattfinden müssen. Der Versuch einer Auf-
rechterhaltung der Beziehung zu den Eltern setzt eine Differenz zu ihnen
voraus.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven