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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung
talismus-Begriff belegt werden, können auch anders und präziser benannt
oder kritisiert werden (ultra-orthodox, reaktionär, traditionalistisch, in-
tegralistisch, salafistisch etc.), sofern sie sich ansonsten als frei von Gewalt
zeigen – was den Hinweis auf mögliche Gewaltpotenziale nicht ausschließt.
Dies bringt es natürlich mit sich, auch diese Begriffe genauer zu definieren,
was hier nicht geleistet werden kann; ich halte es jedoch für sinnvoll, im
gegenwärtig breiten, als ‚Fundamentalismus‘ bezeichneten Feld mehr be-
griffliche Differenzierungen einzuführen.
Allerdings weist auch der Gewaltbegriff eine Unschärfe auf: Schirrmacher
hat primär physische Gewalt im Blick; jeder Versuch, den Gewaltbegriff
weiter zu öffnen (verbal, psychisch, strukturell) bedingt stets eine größere
Unschärfe in seiner Bestimmung, zudem psychische Gewalt auch physische
Auswirkungen hat. Mit Alan Fiske und Tage Rai verstehe ich Gewalt in der
Folge als „action in which the perpetrator regards inflicting pain, suffering,
fear, distress, injury, maiming, disfigurement, or death as the intrinsic,
necessary, or desirable means to the intended ends“ (Fiske/Rai 2014, 2).
Fundamentalistisch kann daher ein System genannt werden, wenn es die
Anwendung von Gewalt bewusst durch seine Lehre legitimiert und als Teil
seiner Praxis ausübt, indem Lehre und Praxis gewaltoffen ausgelegt wer-
den. Dies betrifft Gewalt gegen andere – durch Drohungen, gezielte Über-
griffe, Attentate, Verfolgung oder Ermordung –, aber ebenso Gewalt gegen
Mitglieder des eigenen Systems, etwa durch Einschüchterung, körperliche
Bestrafung bei Vergehen oder Hinrichtung von Dissident:innen.
Doch eine solche Definition lässt andere Fragen unbeantwortet: Warum
entsteht diese Neigung zur Gewalt? Wodurch ist sie motiviert? Tendieren
bestimmte Weltanschauungen – oder gar religiöse Weltanschauungen –
eher zu Gewalt als andere? Thomas Meyer definiert etwa als Entstehungs-
bedingungen für Fundamentalismen aller Art „die Gefahr einer möglichen
Auflösung [traditioneller Milieus] im Zuge kultureller und gesellschaft-
licher Modernisierungsprozesse“, dazu eine „plötzliche sozio-kulturelle
Kränkung [verbunden] mit der Erfahrung oder der Drohung sozialen Ab-
stiegs und ökonomischer Unsicherheit“, die gleichzeitig auf „schlagkräf-
tige Organisationen, charismatische Führer, wirksame Kommunikations-
techniken und populistische Parolen“ treffen (Meyer 2011, 96–97). Aber
reicht das aus, um Gewalt zu verursachen?
Vorschnell werden fundamentalistische Haltungen oder Gewaltakte als
durch Angst oder Hass motiviert beschrieben: Die Ablehnung von Mo-
derne, von Pluralität, von Freiheit oder von Menschengruppen wird nach
dieser Deutung so stark, dass sie sich zunächst als negative Haltung und
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven