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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung
kens und Handelns unterscheiden, sie sind vielmehr Effekte des-
selben Ordnungssystems: Etwas wird erst dadurch schmutzig, in-
dem es nicht als rein klassifiziert wird, erst dadurch profan, indem
es nicht als heilig gilt. Umgekehrt machen wir dadurch, dass wir
etwas als unrein markieren, dessen Gegenteil zu etwas Reinem.
̟ Zweitens lassen sich unsere säkularen, hygienisch argumentierten
Ordnungssysteme nicht substanziell von religiösen oder kulturel-
len Ordnungssystemen unterscheiden: Sie funktionieren in ihrer
Grundstruktur auf dieselbe Weise; wir wenden das Ordnungsden-
ken nur entlang anderer Parameter (Hygiene) an. Ob etwas rituell
oder hygienisch rein ist: in beiden Fällen steht dahinter ein symbo-
lisches Ordnungssystem, das darüber entscheidet, wann etwas als
schmutzig gilt oder nicht.
̟ Und damit fällt drittens auch eine klare Unterscheidung von reli-
giösen und nicht-religiösen Deutungssystemen weg.
Jedes kulturelle System (und davon beeinflusst dessen Mitglieder) ver-
fügt über ein bestimmtes Ordnungswissen, das enger oder offener, rigider
oder flexibler sein kann.6 Je nachdem ist die Bewahrung von Reinheit (die
Aufrechterhaltung der Ordnung) und die Sorge vor Verunreinigung (der
Gefährdung dieser Ordnung) ein komplexer Prozess. Solche Gefährdun-
gen, also Verstöße gegen die Ordnung, haben Auswirkungen auf jene, die
sie wahrnehmen – bis hin zur Empfindung von Abscheu und Ekel. Douglas
selbst hat den Bezug ihrer Theorie zu evolutionsbiologischen Erkenntnis-
sen nicht hergestellt und Reinheit / Unreinheit vor allem als soziale und
kulturelle Kategorien verstanden (vgl. Duschinsky 2016, 6). Neue For-
schungen legen jedoch biologische Voraussetzungen durchaus nahe; der
Zusammenhang von Ekel / Abscheu (disgust) und Urteilsprozessen wird je-
doch erst seit den letzten beiden Jahrzehnten genauer erforscht. Im Deut-
schen werden diese beiden Begriffe bisweilen unterschieden, ich verwen-
de hier bevorzugt ‚Abscheu‘, da ‚Ekel‘ im Deutschen eher auf materiellen,
physischen Ekel bezogen ist; im Englischen ist in diesem Begriffsfeld stets
einheitlich von disgust die Rede. Rozin, Haidt & McCauley (2008, 759–763)
unterscheiden dabei core disgust (besonders bezogen auf Nahrungsmittel),
animal-nature disgust (bezogen auf Handlungen, die Menschen mit Tieren
gemeinsam haben, etwa Ausscheidung), interpersonal disgust (zum Beispiel
gegenüber ungepflegten oder kranken Menschen) und moral disgust (ge-
genüber als moralisch verwerflich betrachteten Handlungen). In diesem
Beitrag kommen primär interpersonal und moral disgust zur Sprache, was
6 Die von Mary Douglas mitbegrün-
dete Cultural Theory differenziert
vier unterschiedliche Idealtypen
sozialer Organisation: traditio-
nelle Hierarchie, marktförmiger
Individualismus, kommunitärer
Egalitarismus und isolationisti-
scher Fatalismus. Sie alle erzeugen
je eigene Formen von Ordnung
und Unordnung und gehen unter-
schiedlich mit Gefährdungen um:
Die Begegnung mit Unordnung und
Anomalien kann zu autoritativer
Regelung und Begrenzung, Toleranz
von individueller Freiheit, zum Ver-
such der Inklusion oder zu Rückzug
und Resignation führen (vgl. Tan-
sey/O’Riordan 1999). Man denke
hier aktuell nur an die unterschied-
lichen Reaktionen auf die Anomalie
COVID-19.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven