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LIMINA - Grazer theologische Perspektiven
Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
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74 | www.limina-graz.eu Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung kens und Handelns unterscheiden, sie sind vielmehr Effekte des- selben Ordnungssystems: Etwas wird erst dadurch schmutzig, in- dem es nicht als rein klassifiziert wird, erst dadurch profan, indem es nicht als heilig gilt. Umgekehrt machen wir dadurch, dass wir etwas als unrein markieren, dessen Gegenteil zu etwas Reinem. ̟ Zweitens lassen sich unsere säkularen, hygienisch argumentierten Ordnungssysteme nicht substanziell von religiösen oder kulturel- len Ordnungssystemen unterscheiden: Sie funktionieren in ihrer Grundstruktur auf dieselbe Weise; wir wenden das Ordnungsden- ken nur entlang anderer Parameter (Hygiene) an. Ob etwas rituell oder hygienisch rein ist: in beiden Fällen steht dahinter ein symbo- lisches Ordnungssystem, das darüber entscheidet, wann etwas als schmutzig gilt oder nicht. ̟ Und damit fällt drittens auch eine klare Unterscheidung von reli- giösen und nicht-religiösen Deutungssystemen weg. Jedes kulturelle System (und davon beeinflusst dessen Mitglieder) ver- fügt über ein bestimmtes Ordnungswissen, das enger oder offener, rigider oder flexibler sein kann.6 Je nachdem ist die Bewahrung von Reinheit (die Aufrechterhaltung der Ordnung) und die Sorge vor Verunreinigung (der Gefährdung dieser Ordnung) ein komplexer Prozess. Solche Gefährdun- gen, also Verstöße gegen die Ordnung, haben Auswirkungen auf jene, die sie wahrnehmen – bis hin zur Empfindung von Abscheu und Ekel. Douglas selbst hat den Bezug ihrer Theorie zu evolutionsbiologischen Erkenntnis- sen nicht hergestellt und Reinheit / Unreinheit vor allem als soziale und kulturelle Kategorien verstanden (vgl. Duschinsky 2016, 6). Neue For- schungen legen jedoch biologische Voraussetzungen durchaus nahe; der Zusammenhang von Ekel / Abscheu (disgust) und Urteilsprozessen wird je- doch erst seit den letzten beiden Jahrzehnten genauer erforscht. Im Deut- schen werden diese beiden Begriffe bisweilen unterschieden, ich verwen- de hier bevorzugt ‚Abscheu‘, da ‚Ekel‘ im Deutschen eher auf materiellen, physischen Ekel bezogen ist; im Englischen ist in diesem Begriffsfeld stets einheitlich von disgust die Rede. Rozin, Haidt & McCauley (2008, 759–763) unterscheiden dabei core disgust (besonders bezogen auf Nahrungsmittel), animal-nature disgust (bezogen auf Handlungen, die Menschen mit Tieren gemeinsam haben, etwa Ausscheidung), interpersonal disgust (zum Beispiel gegenüber ungepflegten oder kranken Menschen) und moral disgust (ge- genüber als moralisch verwerflich betrachteten Handlungen). In diesem Beitrag kommen primär interpersonal und moral disgust zur Sprache, was 6 Die von Mary Douglas mitbegrün- dete Cultural Theory differenziert vier unterschiedliche Idealtypen sozialer Organisation: traditio- nelle Hierarchie, marktförmiger Individualismus, kommunitärer Egalitarismus und isolationisti- scher Fatalismus. Sie alle erzeugen je eigene Formen von Ordnung und Unordnung und gehen unter- schiedlich mit Gefährdungen um: Die Begegnung mit Unordnung und Anomalien kann zu autoritativer Regelung und Begrenzung, Toleranz von individueller Freiheit, zum Ver- such der Inklusion oder zu Rückzug und Resignation führen (vgl. Tan- sey/O’Riordan 1999). Man denke hier aktuell nur an die unterschied- lichen Reaktionen auf die Anomalie COVID-19.
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Limina Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
Titel
Limina
Untertitel
Grazer theologische Perspektiven
Band
4:1
Herausgeber
Karl Franzens University Graz
Datum
2021
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
Abmessungen
21.4 x 30.1 cm
Seiten
224
Kategorien
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