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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische GefÀhrdung
(Stichwort: Abscheu). Dieses gemeinsame Handeln schafft zugleich eine
starke Gemeinschaftserfahrung und ermöglicht Zugehörigkeit durch com-
munal sharing, zum Ausdruck gebracht durch egalitĂ€re Sprache (âBrĂŒder
und Schwesternâ), gemeinsame Kleidung, Symbole, Riten und Freund-
schaften. Zusammengehalten wird dies von einem religiösen Deutungs-
system, das klare Regeln, Orientierungen und Ordnungen bietet und zu-
gleich auch Protest gegen gesellschaftliche MissstÀnde ermöglicht (vgl.
El-Mafaalani 2017, 79â82): Reinheit der Lehre, Reinheit der Gruppe und
Reinheit des Handelns. Doch auch hier wĂŒrde ich dafĂŒr plĂ€dieren, nicht von
Fundamentalismus zu sprechen, solange diese drei Formen der Reinheit
nicht mit legitimierten Formen von Gewalt durchgesetzt werden, solan-
ge das System noch andere Möglichkeiten besitzt, mit Anomalien und Ge-
faÌhrdungen umzugehen, wie etwa die von Douglas (s. o.) benannten Wege
der Re-Interpretation, der Vermeidung oder der rituellen Integration.
Ein Faktor dabei ist auch kulturelle Entwurzelung: Olivier Roy hat ĂŒber-
zeugend dargelegt, dass eine lokale Verwurzelung religiöser Traditionen
gleichsam eine âunsaubereâ Religion erzeugt, mit verschiedenen Volks-
brÀuchen, Synkretismen und regionalen Varianten. Wird diese Einbindung
jedoch aufgelöst, durch SÀkularisierung oder Migration, kommt die Vor-
stellung einer âreinenâ Religion stĂ€rker zum Ausdruck und wird zu einem
Referenzpunkt religiöser Entwicklungen, die sich von traditionellen Re-
ligionsformen, aber auch sÀkularen Gesellschaften abkoppeln (vgl. Roy
2010). Religion wird von kulturellen, lokalen, historischen, weltlichen Be-
zĂŒgen gleichsam âgereinigtâ und idealisiert. Auch hier erzeugen sich Ord-
nung und Unordnung, wie bei Douglas, gegenseitig: Die sÀkulare Gesell-
schaft weist Religionen einen Sonderbereich zu (und macht sie damit zu
etwas PrekÀrem), umgekehrt können sich Religionen als Reaktion auf die
SĂ€kularisierung von ihren regionalen und historischen Wurzeln abwen-
den â und beide Seiten fĂŒhlen sich voneinander bedroht.
Die EngfĂŒhrung und âReinigungâ von Ordnungssystemen bietet also Vor-
teile, nÀmlich Klarheit, Orientierung, soziale IdentitÀt, KohÀsion, Zugehö-
rigkeit, Sinnstiftung. Zugleich erzeugt dies, mit Douglas gesprochen, aber
auch eine hohe Zahl an Anomalien, an Menschen, Lehren und Verhaltens-
weisen, die nicht (mehr) ins System passen. So lange es zu keinem unmit-
telbaren GefĂŒhl der GefĂ€hrdung kommt, können solche Gemeinschaften in
Kulturelle Entwurzelung fördert die idealisierte
Vorstellung einer âreinenâ Religion.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven