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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische GefÀhrdung
einem sozialen Kontext koexistieren oder ihren GefÀhrdungen durch Ver-
meidungsstrategien entgehen. Je stÀrker jedoch andere Menschen, Ideen
oder Verhaltensweisen als kontaminierend, als bedrohlich fĂŒr die Stabili-
tÀt der eigenen Lehre und der eigenen Gruppe wahrgenommen werden und
je stĂ€rker deren TrĂ€ger:innen als âwiderwĂ€rtigâ dehumanisiert werden,
desto eher kann Gewalt als Abwehr der Bedrohung (Douglas) und als Be-
ziehungsregulierung (Fiske) legitim erscheinen â auch gegen die eigenen
Mitglieder.
Dabei spielt es keine Rolle, ob die vermeintliche GefÀhrdung von einer do-
minanten Mehrheit oder einer kleinen Minderheit ausgeht. Auch Minder-
heiten oder Minderheitenmeinungen können als kontaminierend empfun-
den werden. Fundamentalismus ist nicht einfach eine Reaktion auf soziale
Diskriminierung durch MĂ€chtige, er kann sich auch gegen Machtlose rich-
ten, deren Ansichten oder Handlungen als GefÀhrdungen markiert werden,
sowohl innerhalb wie auch auĂerhalb der eigenen Gruppe. Empfunden wird
dies dann als legitime Gewalt; âViolence is morally praiseworthy if the vic-
tim is perceived as a potential threat or contaminant to the in-groupâ (Fis-
ke/Rai 2014, 19). Fundamentalismus ĂŒbt diese Gewalt aus, um die Reinheit
seiner Lehre, seiner sozialen Gruppe und seiner Handlungsnormen herzu-
stellen und zu garantieren.
4 Ausblick
Was ist mit einer solchen zusÀtzlichen Perspektive auf Fundamentalismus
gewonnen? Sie ermöglicht eine differenzierte Beurteilung fundamentalis-
tischer PhÀnomene: Fundamentalismus lÀsst sich nicht allein als Oppo-
sition zu einer (unklar definierten) âModerneâ, als Reaktion auf Ausgren-
zungs- und Minderheitserfahrungen oder als Unzufriedenheit und Wut
erklÀren. Die ersten beiden Deutungsmuster können etwa Fundamentalis-
men in Indien (hinduistisch) oder Birma (buddhistisch) nicht ausreichend
erklÀren, das letztere hat keinen analytischen Mehrwert, wenn die Ursa-
chen und Mechanismen dahinter nicht benannt werden können.
Hier bietet das Streben nach Reinheit eine zusÀtzliche Möglichkeit der
Deutung: Die Konstruktion von Ordnungssystemen ist eine menschliche
Auch Minderheiten oder Minderheitenmeinungen
können als kontaminierend empfunden werden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven