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Adem Aygün | Fundamentalismus im zeitgenössischen islamischen Denken
Neben einem Überblick über ihr jeweiliges Verhältnis zur Politik, ihre
Heran gehensweise an die grundlegenden Probleme der heutigen islami-
schen Welt und ihre Lösungsvorschläge, ihre Organisationsstruktur und
ihre Führungstypologie wird hier der Schwerpunkt auf die Sicht dieser Be-
wegungen auf die Hauptquellen des Islam gelegt. Es ist besonders wichtig
zu erwähnen, dass es Übergänge und Schnittstellen zwischen diesen An-
sätzen bzw. Bewegungen gibt. Daher werden hier nur diejenigen Merkmale
ausgeführt, welche für einen Ansatz oder eine Bewegung besonders mar-
kant sind.
Traditionalismus
Islamischer Traditionalismus ist eine Erscheinungsform von Ashab al-
hadith, die im 9. Jahrhundert entstanden ist. Die Traditionalisten, die als
Anhänger und Verfechter der Prophetentradition (Hadith-Sunna) bekannt
sind, besinnen sich daher auf die über Jahrhunderte tradierten Normen und
Vorschriften der ersten drei Generationen bis einschließlich Ahmad ibn
Hanbal (780 in Bagdad – 855).
Das gemeinsame Merkmal, das den traditionalistischen Bewegungen zu-
grunde liegt, ist ein Textzentrismus. In diesem Sinne besitzt auch die Pro-
phetentradition normativen Charakter und stellt neben dem Koran die
zweite Quelle der islamischen Normenlehre dar. Alle anderen Meinungen,
die auf rationalen Schlussfolgerungen beruhen, werden als absurd abge-
wertet und abgelehnt.
Aus dieser Sicht ist die Tradition sakral und verdient Respekt. Da die Tra-
dition althergebracht und beständig ist, verleiht sie ihren Anhängern gro-
ßes Selbstvertrauen, da damit eine heilige Ideengeschichte geteilt wird. Sie
bietet eine Motivation, die materiellen und spirituellen Bindungen und die
innere Harmonie zwischen den Mitgliedern sicherzustellen. Dadurch ent-
steht ein gemeinsames Identitätsbewusstsein. Jegliche Veränderung, Ent-
wicklung oder Innovation wird mit Argwohn betrachtet, da sie als Abkehr
von der Tradition angesehen wird.
Nach diesem Ansatz können Traditionen auf den ersten Blick stereotyp,
formelhaft und glanzlos erscheinen, sie beinhalten jedoch in sich eine Fle-
xibilität, die es ihnen erlaubt, sich im Verlauf der Geschichte weiterzuent-
Das gemeinsame Merkmal der traditionalistischen
Bewegungen ist ein Textzentrismus.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 4:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 224
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven