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Thomas Söding | Freiheit des Gewissens – Freiheit des Glaubens
dass die Komplexitätsgewinne, die durch den Gang der Wissenschaften und
die Modernisierung der Lebenskulturen entstanden sind, reduziert werden
sollten, sondern weil die frühmoderne Rezeption längst nicht das Potenti-
al der paulinischen Freiheitstheologie ausgeschöpft, sondern im Gegenteil
vielfach verkannt hat, so dass im Gegenzug auch die Freiheitsidee, die sich
anti-kirchlich und anti-theologisch gibt, unterkomplex geblieben ist.
Im weltweiten Diskursraum ist Religion ein Kommunikationsfaktor ers-
ter Güte. Ihn außen vor zu lassen, ist die Versuchung einer intellektuellen
Elite, der sie besser widersteht. Alain Badiou hat Paulus als einen Denker
gewürdigt, der im Blick auf den Gekreuzigten, des zu höchsten Ehren ge-
brachten Opfers, das Bürgerrecht für alle gedacht habe, gebunden allein
an das Bekenntnis des Glaubens, aber bereit, in aller Freiheit öffentlich
Zeugnis abzulegen. Giorgio Agamben hat in seinem Römerbriefkommen-
tar reflektiert, dass in der Verkündigung eines unschuldigen Opfers als
Retter die Option für eine universale Friedensordnung begründet ist, die
den Tod überwindet. Slavoj Žižek hat in Paulus den Theoretiker einer Re-
volution gesehen, der mit der Möglichkeit des Neuen rechnet und dadurch
der Freiheit ein entscheidendes geschichtliches Gewicht gibt. Auch Jürgen
Habermas hat mit der Rechtfertigung ein typisch paulinisches Thema auf-
genommen, um die Konfliktkultur einer pluralistischen Gesellschaft zu zi-
vilisieren. Die Möglichkeiten eines philosophisch-theologischen Dialoges,
in dem die paulinische Freiheitstheologie Gewicht erhält, erscheint seit
der Jahrtausendwende weit günstiger als beim Übergang vom 19. zum 20.
Jahrhundert. Freilich muss die Theologie diesen Dialog auch beherzt füh-
ren und die Theozentrik des paulinischen Freiheitsdiskurses zur Geltung
bringen – historisch informiert und hermeneutisch engagiert.
Paulus selbst wird freilich nicht als objektive Größe ins Gespräch gebracht,
sondern als jemand, der die Erfindung der Subjektivität stark vorangetrie-
ben hat – durch seine Glaubenserfahrung (Siedentop 2015). Was er über die
Freiheit des Gewissens und des Glaubens im Spannungsfeld von Theono-
mie und Autonomie schreibt, ist nicht der Schluss der Debatte, sondern der
Anfang eines Gesprächs, das von der Überzeugung zu profitieren vermag,
der Gott Jesu Christi bejahe die menschliche Freiheit und Menschen fän-
den in Gott ihre Freiheit, wenn sie auf ihr Gewissen hören und wenn sie
im Glauben seinem Wort gehorchen, ohne irgendein Geschöpf für Gott zu
halten, auch sich selbst nicht.
Nicht Schluss der Debatte, sondern der Anfang eines Gesprächs
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven