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Gunda Werner | Freiheit und Sünde
baren Widerspruch selbst zum Konzil von Trient, das sich ja bereits von
der lutherischen Lesart des Augustinus, die ja zugleich in der Synode von
Orange zu finden war, distanzierte und eine bleibende restliche Willens-
freiheit postulierte. Denn auch das Konzil von Trient hielt ja an der Erb-
kategorie fest, wenngleich diese auf die Schuld bezogen wurde und nicht
mehr auf die faktische Sünde. Dennoch stehen die beiden Denkformen in
einer deutlichen Spannung, die vor allem in der autonomen Begründung
der Moral und mit ihr der Trennung von Moral und Religion zu sehen ist.
Für moralisches Handeln und sittliche Entscheidung sind nach Kant kei-
ne anderen Maßstäbe zu suchen als das in der Vernunft vorfindbare mo-
ralische Gesetz. Diese Verabschiedung der heteronomen Begründung so-
wie die Verneinung der realen historisch faktischen Existenz Gottes sind
zugleich die entscheidenden Trennlinien zur Theologie. Diese kritischen
Dekon struktionen und philosophischen Rekonstruktionen theologischer
Glaubensinhalte als philosophische Denkoperationen der Vernunft fügen
sich ein in die grundlegenden Anfragen der Zeit „um 1800“. (Danz/Essen
2012, 1–6)9 In dieser sogenannten „Sattelzeit der Neuzeit“ entstanden
aber „jene problemerzeugenden Krisenkonstellationen, auf die das 19. und
20. Jahrhundert, auch theologisch, zu reagieren hatte.“ (Essen 2012a, 107)
b) Katholischer Widerstand
Weil diese als „Sattelzeit“ bezeichnete Epoche (Koselleck 2003) nicht nur
eine geistesgeschichtlich zugespitzte Formationsepoche ist, die neue, ver-
änderte Denkformen hervorbringt, die für theologisches Denken und hier
insbesondere für das römisch-katholische von grundlegender Heraus-
forderung sind – so in Stichworten neben der Religionsschrift Kants die
Christologie Lessings, im Blick auf die Vernunft die Philosophie des deut-
schen Idealismus und seine Gegenbewegung, die Romantik –, sondern weil
in dieser Zeit auch ein politischer Umbruch einhergeht, der die Auflösung
des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806, die grundlegende
Neuordnung auf dem Wiener Kongress 1815 sowie die weitreichenden Fol-
gen der vorangehenden Säkularisierung 1802/1803 zur Folge hat, ist für die
römisch-katholische Kirche und ihre Wissenskulturen eine Neuorientie-
rung auf allen Ebenen notwendig.
Andreas Holzem hebt insbesondere die Krise der Wissenskulturen hervor
(Holzem 2013, 16), in denen die katholische Theologie eine Neuorientie-
rung gestalten muss, die durch die wegbrechenden Sozial- und Traditions-
bezüge in großer Unsicherheit besteht. (Essen 2012a, 107-109; auch Ebertz
9 Genau genommen ist dies die Zeit
zwischen dem Tode Gotthold Eph-
raim Lessings 1781 und dem Tode
Georg Wilhelm Friedrich Hegels
1831 / Johann Wolfgang von Goethes
1832.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven