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Reinhold Esterbauer | Zwischen Hoffnung und Gewalt
und LĂŒder Deecke (Kornhuber/Deecke 1965) auf die Frage der Willensfrei-
heit appliziert, diese selbst aber nicht leugnet, oft so, dass der freie Wil-
le nicht nur ein zweideutiges Phantom sei, sondern eine SelbsttÀuschung
des Menschen. Nach Gerhard Roth ist es korrekt, wenn Neurobiologinnen
und Neurobiologen mit Bezug auf die Willensfreiheit behaupten: â,Nicht
mein bewusster Willensakt, sondern mein Gehirn hat entschieden!ââ (Roth
2004, 227)
Eine solche Behauptung steht einerseits vor der Schwierigkeit, dass mein
Gehirn statt meiner selbst Freiheit haben mĂŒsste, weil es sonst selbst nicht
entscheiden könnte, und andererseits vor dem Problem, dass neurobiolo-
gisch feststellbare Ursachen nicht als BeweggrĂŒnde fĂŒr Handlungen aus-
gelegt werden können.1 DarĂŒber hinaus bleibt zu fragen, worin die von An-
ders beschriebene TĂ€uschung denn nun liege, die das Phantom Freiheit aus
seiner Zweideutigkeit in die Eindeutigkeit bloĂen Scheins â und nicht in
die Eindeutigkeit bloĂer Wirklichkeit â transformiert. Es kann sich â so
viele Neurobiologinnen und Neurobiologen â nur um eine SelbsttĂ€uschung
handeln, die es möglicherweise aus sozialen GrĂŒnden vorteilhaft erschei-
nen lieĂ, dass man Personen Freiheit zubilligte, obwohl sie nach neurobio-
logischer Auskunft keine haben.
Von bewusster TÀuschung lÀsst sich allerdings kaum sprechen, wenn
Eltern , Lehrerinnen oder Erzieher, die angeblich eigener SelbsttÀuschung
unterliegen und meinen, sie seien frei, Kinder so erziehen, als seien auch
sie frei. Meiner Ansicht nach liegt die TĂ€uschung nicht darin, dass Men-
schen irrtĂŒmlich von ihrer eigenen Freiheit ausgehen, sondern darin, dass
man von neurobiologischer Seite behauptet, man könne Organen wie dem
Gehirn Entscheidungskraft zuschreiben, indem man es plötzlich und un-
vermittelt mit personalen statt mit naturwissenschaftlichen Katego rien
beschreibt. Denn wenn nicht das Ich entscheidet, sondern das Gehirn vor-
weg schon entschieden hat (Roth 2004, 229), das Ich sich diese âTatâ aber
in SelbsttÀuschung zuschreibt, dann befÀnde man sich in der Situation,
dass nicht ich mich entscheide, sondern dass gleichsam zwei âIcheâ â das
sich tĂ€uschende Ich und das Gehirn-Ich â miteinander in Beziehung tre-
ten. Ginge man von einer so absurden Konstellation aus, wÀre die Frage
nach der Freiheit zwar beendet, lebensweltlicher Wirklichkeit aber Gewalt
1 Zur philosophischen Kritik an
Ă€hnlich lautenden neurobiologi-
schen Versuchen, Freiheit zu leug-
nen, siehe grundsÀtzlich Pöltner
(2009). Die TĂ€uschung liegt nicht darin, dass Menschen irrtĂŒmlich
von ihrer eigenen Freiheit ausgehen, sondern darin, dass man
Organen wie dem Gehirn Entscheidungskraft zuschreibt.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven