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Hildegard Wustmans | Missbrauch – die Verspottung der Freiheit
bestimmte Weise gehandelt – beispielsweise einen bestimmten Blick
auf sein eigenes Leben bekommen, eine bestimmte Lebensentscheidung
getroffen, ein bestimmtes Gebet gesprochen, Geld gespendet
–, während
er in Wirklichkeit mit Hilfe bestimmter Techniken dazu gebracht
worden ist.“ (Wagner 2019a, 99 [Hervorhebungen: im Original])
All das wird dadurch befördert, dass es zwischen den Beteiligten ein asym-
metrisches Beziehungsverhältnis gibt: durch das Amt, die Stellung, den
guten Ruf, den Wissens- und Erfahrungsschatz …
Doris Wagner macht darauf aufmerksam, hellhörig zu werden, wenn „der
Eindruck erweckt wird, das Leben in einer bestimmten Gemeinschaft oder
mit einer bestimmten Entscheidung wäre das reinste Glück.“ (Wagner
2019a, 110) Dann wird zwischen den Zeilen Zwang ausgeübt. Denn für alles,
was sich nicht in diese Kategorien von Glück und Zufriedenheit einreihen
lässt, ist im wahrsten Sinn des Wortes kein Platz. So werden Menschen dazu
gezwungen, „über ihre wahren Gefühle zu schweigen und ihr Äußeres, ihre
Mimik, ihre Aussagen und ihr Verhalten dem Glücksnarrativ anzupassen.“
(Wagner 2019a, 110) Allerdings können auch Rituale und Gebete manipula-
tiv eingesetzt werden, was oft dann geschieht, wenn Ich-Formulierungen
gesprochen werden. Wer spirituell manipuliert wird, hört auf, sich selbst zu
fühlen, selbst zu denken und selbstbewusst zu handeln. Mit der Zeit ent-
fremden sich spirituell manipulierte Menschen nicht nur von sich selbst,
sondern auch von ihrem Umfeld, ihren Freund*innen und Familien eines
höheren Zieles wegen: Gott. (Vgl. Wagner 2019a, 127)
„Z lebte 10 Jahre lang in einer Gemeinschaft. Er musste Tag und Nacht
arbeiten, bekam nie Freizeit, seine gesamte Kommunikation wurde kon-
trolliert, er durfte keinen persönlichen Austausch pflegen, und das alles
aus Liebe zum göttlichen Herzen Jesu.“ (Mertes 2018, 37–38)
Wer spirituell manipuliert wurde, ist dann auch ein leichtes Opfer spiritu-
eller Gewalt. Die Vorgabe, auf enge Freundschaften zu verzichten, ist ein
Gewaltakt. Wo spirituelle Gewalt eingesetzt wird, gilt es, den letzten Frei-
raum des Individuums zu besetzen und damit zu zerstören.
„Alles, was einen Menschen innerlich mit sich selbst in Kontakt bringen
und frei machen kann, wird von den Führern spirituell totalitärer Syste-
Wer spirituell manipuliert wird, hört auf, sich selbst zu fühlen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven