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Hildegard Wustmans | Missbrauch – die Verspottung der Freiheit
me angegriffen, vernichtet oder unter ihre Kontrolle gebracht. Da kommt
es sicher nicht von ungefähr, dass vor allem spirituelle Gewalt auf Bezie-
hungen abzielt:
Niko, der seit einigen Jahren Bruder in der Gemeinschaft war und
sich mitten im Noviziat befand, hatte von seiner Schwester einen
von ihr selbst gestrickten Schal geschenkt bekommen. Da er nur
wenig Kontakt zu seiner Familie haben durfte, war dieser Schal für
ihn ein besonders kostbares Geschenk. [...] Als der Novizenmeister,
der zugleich Nikos geistlicher Begleiter und Beichtvater war, von
diesem Schal erfuhr, forderte er umgehend, dass Niko diesen Schal
abzugeben habe, und zwar mit der Begründung, dass der Schal nicht
dem in der Gemeinschaft üblichen Stil entspräche und dass er seine
Anhänglichkeit an seine leibliche Familie förderte, von der Niko sich
im Noviziat zu lösen habe. Niko übergab seinem Oberen den Schal.“
(Wagner 2019a, 132 [Hervorhebungen: im Original])
Wenn jemand in den Strudel einer solchen Beziehung geraten ist, in der es
keine Selbstbestimmung mehr gibt, wenn die Vorgesetzte/der Vorgesetzte
sagt, was zu tun und zu lassen ist, was richtig und falsch ist und es keinen
anderen Bezugsrahmen mehr gibt, „dann kann diese Autorität buchstäblich
alles von diesem Menschen verlangen, ohne dass dieser sich wehren könnte.“
(Wagner 2019a, 143 [Hervorhebungen: im Original])
Ein solches Vorgehen ist gewalttätig. Es führt Stück für Stück in die Isolati-
on und in eine verstärkte Abhängigkeit. Letztlich hat man es mit Menschen
zu tun, die spirituell, emotional und auch finanziell abhängig und damit
ausgeliefert sind. Aus einem solchen Geflecht ist kaum zu entkommen. Und
wenn es gelingt, dann ist es für eine/einen selbst wie auch für andere kaum
nachvollziehbar, dass das alles möglich war. Aber es war möglich, weil die
Täter*innen in missbrauchenden Systemen über eine ganze Palette an
Mustern verfügen: Sicherheit und Orientierung, Zugehörigkeit zu einer
Elite und Nähe zu besonderen Persönlichkeiten. Es herrschen eben zugleich
mehr oder weniger verdeckt Druck und Zwang, Denk- und Sprechverbote,
Kontrolle und Isolation.
Wer sich irgendwann dann doch befreien kann, sieht sich häufig mit üb-
ler Nachrede, Verleumdungen und Vorwürfen konfrontiert. Und die meis-
ten missbrauchten Menschen sind in dieser Phase nicht nur psychisch und
physisch am Ende, sie haben vielfach keine Zufluchtsorte mehr und stehen
auch finanziell oft ganz mittellos da.
Aus dem Geflecht der Abhängigkeit ist kaum zu entkommen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 267
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven